Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift des § 63 Abs 1 SGB 10 über die Erstattung von Kosten des Vorverfahrens ist nicht entsprechend auf Kosten eines Verwaltungsverfahrens betreffend die Rücknahme eines Verwaltungsaktes (Neufeststellungsverfahren) anzuwenden.

 

Normenkette

SGB 10 § 8 Fassung: 1980-08-18, § 44 Fassung: 1980-08-18, § 63 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

SG Dortmund (Entscheidung vom 09.10.1981; Aktenzeichen S 24 Kn 206/81)

 

Tatbestand

Die Klägerin beansprucht die Erstattung von Kosten, die ihr durch ein Verfahren zur Neufeststellung ihrer Rente entstanden sind.

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 6. November 1979 aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes erhöhte Witwenrente. Dieser Verwaltungsakt wurde nicht angefochten. Mit Schreiben vom 3. September 1980 beanstandete die Klägerin durch einen Bevollmächtigten die Berechnung ihrer Rente. Die von der Beklagten daraufhin eingeholten Arbeitgeberauskünfte erbrachten noch nicht berücksichtigte Hauerjahre bzw Zeiten ständiger Arbeiten unter Tage und führten zu einer Berichtigung des Beitragskontos. Mit Bescheid vom 5. Februar 1981 stellte die Beklagte die Rente der Klägerin für die Zeit ab 1. Januar 1980 neu fest, wodurch sich der Zahlbetrag von 868,40 DM auf 908,80 DM erhöhte.

Den Antrag der Klägerin, ihr die durch das Verfahren zur Neufeststellung der Rente entstandenen Kosten in Höhe von 381,80 DM zu erstatten, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. Februar 1981 ab. Auch das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1981).

Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage der Klägerin durch Urteil vom 8. Oktober 1981 abgewiesen, weil ein solcher Anspruch im Gesetz nicht vorgesehen sei. § 63 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB 10) betreffe Widerspruchsverfahren und könne bei der Neufeststellung einer Rente nicht entsprechend angewendet werden. Das SG hat in den Entscheidungsgründen seines Urteils ausgeführt, Berufung und Revision seien wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden.

Mit ihrer Sprungrevision, der die Beklagte zugestimmt hat, macht die Klägerin geltend, das SG habe zu Unrecht eine analoge Anwendung des § 63 Abs 1 SGB 10 hier abgelehnt. Das Neufeststellungsverfahren diene - wie das Widerspruchsverfahren - der Überprüfung eines bereits erlassenen Bescheides und sei praktisch ein verspätetes Widerspruchsverfahren. Der Gesetzgeber habe bei der Kostenregelung in der genannten Vorschrift offenbar erfolgreiche Neufeststellungsverfahren übersehen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die notwendigen Kosten des Neufeststellungsverfahrens zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Sprungrevision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte und form- und fristgerecht eingelegte Sprungrevision der Klägerin ist nicht begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Erstattung von Kosten für die Vertretung in dem einem Rechtsbehelfsverfahren vorgelagerten Verwaltungsverfahren zu.

Hinsichtlich der hier geltend gemachten Aufwendungen ist zwischen dem eigentlichen Verwaltungs- und dem Widerspruchsverfahren zu unterscheiden. Eine Regelung über die Erstattung der Kosten, die dem Antragsteller durch eine Vertretung während des Verwaltungsverfahrens bis zur Erteilung des Verwaltungsaktes entstanden sind, kennt das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Wohl ist bestimmt (§ 64 SGB 10), daß für das Verfahren bei den Behörden nach dem SGB keine Gebühren und Auslagen erhoben werden und die erforderlichen Geschäfte und Verhandlungen kostenfrei sind. Nach § 65a Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) kann derjenige, der einem Verlangen des zuständigen Leistungsträgers nach Mitwirkung gemäß der §§ 61 oder 62 SGB 1 nachkommt, Ersatz seiner notwendigen Auslagen und seines Verdienstausfalls erhalten. Auch hat die Beklagte nach § 118 ihrer Satzung die erforderlichen Reisekosten zu übernehmen, falls im Rentenverfahren eine ärztliche Untersuchung durchgeführt wird, und dem Versicherten das dadurch entgangene Bruttoarbeitsentgelt zu erstatten. Nur der Vertreter, der gemäß § 15 Abs 1 SGB 10 vom Vormundschaftsgericht auf Ersuchen der Behörde bestellt wird, hat gegen diese nach Abs 3 der genannten Vorschrift Anspruch auf angemessene Vergütung und Erstattung seiner baren Auslagen. Die Behörde kann allerdings vom Vertretenen Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen. Eine weitergehende Verpflichtung, Aufwendungen des Antragstellers vor Beginn eines etwaigen Vorverfahrens zu tragen, besteht für den Versicherungsträger - sofern kein Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt wird - nicht.

Die Regelung des § 63 Abs 1 SGB 10, wonach der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, bei erfolgreichem Widerspruch dem Widerspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat, ist im Falle der Klägerin nicht anwendbar. Zum Verwaltungsverfahren iS des Ersten Kapitels des SGB 10 gehört zwar auch das Vorverfahren (vgl §§ 8 und 62 SGB 10), hinsichtlich der Kostenerstattung besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Verwaltungsverfahren im engeren Sinne - einschließlich Erlaß des Verwaltungsaktes - und dem sich daran anschließenden Widerspruchsverfahren. Das Neufeststellungsverfahren gehört zum Verwaltungsverfahren im engeren Sinne. Nicht die von der Vertreterversammlung bestimmte Stelle (§ 62 SGB 10 iVm § 85 Abs 2 Nr 2 SGG) - die Widerspruchsstelle - hat über die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides zu entscheiden und ggf einen Zugunstenbescheid zu erlassen, sondern die zuständige Behörde (§ 44 Abs 3 SGB 10). Das ist in der Regel diejenige, die den zu überprüfenden Verwaltungsakt erlassen hat.

Zwar ist es möglich, durch das Verfahren zur Rücknahme eines rechtswidrigen, hinsichtlich des Überprüfungsgegenstandes nicht begünstigenden Verwaltungsaktes (§ 44 SGB 10) das Gleiche zu erreichen wie durch einen Widerspruch gegen einen unrichtigen Bescheid. Das reicht aber für eine Gleichbehandlung bei der Erstattung von Kosten nicht aus; denn der Widerspruch richtet sich gegen einen noch nicht bindenden Verwaltungsakt, während der Antrag auf Überprüfung eines Bescheides in denjenigen Fällen möglich ist, in denen jener Verwaltungsakt bereits unanfechtbar (§ 77 SGG) geworden ist. Die Erstattung von Kosten für das sogenannte isolierte Vorverfahren, die § 63 SGB 10 betrifft, rechtfertigt sich aus folgenden Überlegungen: Wurde ein Rechtsstreit geführt, dann umfassen die Kosten iS des § 193 Abs 2 SGG auch die notwendigen Aufwendungen eines für den Prozeß gemäß § 78 SGG zwingend vorgeschriebenen Vorverfahrens (so Bundessozialgericht - BSG - in SozR 1500 § 193 Nr 3). Beim isolierten Vorverfahren war der Versicherte hingegen schon mit seinem Widerspruch erfolgreich, so daß eine Anrufung des Gerichts sich erübrigt. Deshalb besteht dann die Möglichkeit der Kostenerstattung nach § 63 SGB 10.

Über die Kosten des Verwaltungsverfahrens im engeren Sinne kann das Gericht dagegen nicht im Rahmen der Entscheidung nach § 193 SGG befinden. Insoweit ist die Situation eines Versicherten, der den Verwaltungsakt nicht angefochten hat, nicht ungünstiger als diejenige eines Klägers, dem erst das Gericht den Anspruch gegen den Versicherungsträger zuerkannt hat. Zwar setzt eine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) einen Verwaltungsakt voraus, daraus läßt sich aber eine Kostenerstattungspflicht für das Verfahren bis zum Erlaß des Bescheides nicht herleiten. Wenn auch Kosten, die der Vorbereitung eines gerichtlichen Verfahrens dienen, notwendig iS des § 193 Abs 2 SGG sein können (vgl BSG aaO mwN), so liegt indes im Antrag auf Gewährung einer Leistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung und dem daraufhin erteilten Bescheid in diesem Sinne nicht die Vorbereitung eines Rechtsstreits. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Verwaltung rechtmäßig handelt und es somit in der Regel der Anfechtung des Verwaltungsaktes nicht bedarf. Der Versicherte soll die Solidargemeinschaft zunächst nicht mit Kosten belasten und den Bescheid abwarten. Erst wenn seinem Antrag nicht stattgegeben worden ist und er deshalb im Widerspruchsverfahren der rechtskundigen Vertretung bedarf, ist eine Kostenübernahme durch die Verwaltung vorgesehen.

Die Vorschrift des § 63 SGB 10 kann hier auch nicht - mangels einer gesetzlichen Bestimmung, die die Erstattung von Kosten des Verwaltungsverfahrens mit Ausnahme des Vorverfahrens regelt - entsprechend angewendet werden. Das Fehlen der Kostenvorschrift beruht nicht auf einer Lücke im Gesetz, die durch Richterrecht auszufüllen ist. Vielmehr handelt es sich hier um ein "beredtes Schweigen" des Gesetzes (vgl BSGE 24, 207, 210). Wie oben aufgezeigt, hat der Gesetzgeber mehrere das Verwaltungsverfahren im Bereich des Sozialrechts betreffende Kostenregelungen getroffen. Das deutet auf eine bewußte Gesetzeslücke hin, derzufolge die hier begehrte Kostenerstattung nicht gewollt ist.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat zu der dem § 63 SGB 10 im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) entsprechenden Vorschrift entschieden, durch § 80 VwVfG sei klargestellt, daß ein verfahrensrechtlicher Anspruch auf Erstattung der Kosten des Widerspruchsverfahrens nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung eröffnet sei. § 80 VwVfg lasse sich nicht auf den Fall ausdehnen, daß der Widerspruchsführer sein Ziel erreicht habe, ohne daß die Behörde über seinen Widerspruch entschieden habe (BVerwG in Buchholz 316 § 80 Nr 10). Der erkennende Senat kann hier offen lassen, ob er dieser Entscheidung allgemein zustimmt. Wenn indes schon nicht einmal die Abhilfe während des Widerspruchsverfahrens zu einer Kostenerstattung durch die Behörde führen soll, dann kann um so weniger ein Neufeststellungsverfahren diese Folge haben, bei dem die Bestandskraft eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes durchbrochen wird.

In Fällen wie dem der Klägerin, in denen anhand unzutreffender Berechnungsunterlagen eine Rente festgestellt worden ist, können vielfach nur der Versicherte oder seine Hinterbliebenen, die den Versicherungsverlauf kennen, auf Fehler der Berechnung aufmerksam machen. Unterlassen sie es, innerhalb der Rechtsbehelfsfrist Widerspruch gegen den Rentenbescheid einzulegen, dann besteht grundsätzlich keine Veranlassung, an den Anspruch auf Rücknahme des betreffenden Verwaltungsaktes (§ 44 SGB 10) nun noch eine Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Kostenerstattung zu knüpfen. Nicht berührt werden von der Entscheidung in diesem Rechtsstreit materiell-rechtliche Erstattungsansprüche etwa aus dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes zB wegen Amtspflichtverletzung, die von der Klägerin nicht geltend gemacht werden. Deshalb kann auch unerörtert bleiben, ob insoweit überhaupt die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig wären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 92

Breith. 1984, 172

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