Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. November 1992 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Streitig ist, ob der Unfall der Klägerin am 3. Juni 1991 als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.

Die Klägerin war als Sachbearbeiterin beim Landesamt für Jugend und Soziales beschäftigt. Dort kaufte sie sich am 3. Juni 1991 gegen 10 Uhr in der betriebseigenen Kantine, die sich im Erdgeschoß ihres Dienstgebäudes befand, eine Flasche Mineralwasser, um ihren Durst zu stillen. Auf dem Rückweg zu ihrem Arbeitsplatz nach Verlassen der Kantine rutschte sie im Flur aus und stürzte. Dabei zerbrach die Flasche. Die Klägerin zog sich an den Scherben der zerbrochenen Wasserflasche eine Schnittverletzung mit vollständiger Durchtrennung des Ulnarisnerven am rechten Handgelenk zu. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. Juli 1991 die von der Verletzten begehrte Entschädigung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, da Essen und Trinken sowie die erforderlichen Wege zur Nahrungsaufnahme, mit Ausnahme der Wege zur Einnahme des Mittagessens, im allgemeinen dem persönlichen und daher unversicherten Lebensbereich zuzurechnen seien. Im übrigen liege auch keine Mitverursachung durch eine Betriebseinrichtung vor. Den Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 1991).

Das Sozialgericht (SG) Mainz hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 9. Januar 1992) und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25. November 1992). Das LSG hat ausgeführt, das Ereignis vom 3. Juni 1991 sei als Arbeitsunfall zu entschädigen, da zwischen dem unfallbringenden Weg und der Betriebstätigkeit der Klägerin ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang bestanden habe.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 548 Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Unfallversicherungsschutz könne nicht auf alle Fälle ausgedehnt werden, in denen Versicherte meinten, sie bedürften des Essens und Trinkens, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Das gelte insbesondere dann nicht, wenn es sich – wie im vorliegenden Falle – nicht um eine übliche Mahlzeit gehandelt habe. Der Versicherungsschutz müsse daher auf die Fälle der Besorgung von Nahrungsmitteln im Betriebsbereich beschränkt bleiben, in dem betriebliche Gefahren wesentlich mitgewirkt oder betriebsbedingte Umstände das Durstgefühl hervorgerufen hätten.

Der Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG).

II.

Die Revision ist unbegründet.

SG und LSG haben zu Recht den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin das Ereignis vom 3. Juni 1991 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Die Klägerin hat einen Arbeitsunfall bei einer versicherten Tätigkeit (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO) erlitten. Sie befand sich auf einem Betriebsweg, als sie stürzte. Der Weg, den sie zurücklegte, als sie die Kantine des Dienstgebäudes verlassen hatte, um zu ihrem Dienstzimmer zu gehen, stand rechtlich wesentlich im inneren Zusammenhang mit ihrer Betriebstätigkeit. Die dafür maßgebenden Grundsätze hat der Senat zuletzt in seinen Urteilen vom 6. Dezember 1989 (SozR 2200 § 548 Nr. 97) und vom 25. November 1992 (2 RU 1/92 – in HV-Info 1993, 531 = BAGUV-RdSchr 16/93) aufgezeigt. Die hier zu beurteilende unfallbringende Handlung ist sachlich durch zwei voneinander zu unterscheidenden Beziehungen mit der Betriebstätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin verknüpft. Die Klägerin legte zum einen einen Weg zurück, der durch die Notwendigkeit geprägt war, persönlich in dem Dienstgebäude anwesend zu sein und dort ihre betrieblichen Tätigkeiten zu verrichten. Zwar befand sie sich auf dem Rückweg von der Besorgung eines Getränkes, ihre Handlung diente also wesentlich auch dazu, ihren Durst zu löschen, und damit einer Betätigung, die grundsätzlich dem unversicherten, privaten Bereich zuzurechnen ist. Aber die Klägerin hatte diesen Weg zurückgelegt, weil sie zum anderen während der Arbeitszeit und ihres betriebsbedingten und deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Aufenthaltes in dem Dienstgebäude diesem Durstgefühl unterlag, das sie zwang, dem Durst dadurch abzuhelfen, daß sie sich Mineralwasser besorgte. Essen, Trinken und das Verrichten der Notdurft während der Arbeitszeit sind im Gegensatz zu bloßen Vorbereitungshandlungen vor der Arbeit dadurch gekennzeichnet, daß sie regelmäßig wesentlich auch der Arbeitskraft des Versicherten dienen und es ihm dadurch ermöglichen, die jeweils aktuelle betriebliche Tätigkeit fortzusetzen (s die Urteile vom 6. Dezember 1989 und 25. November 1992 a.a.O.). Wege, die rechtlich wesentlich zu diesen Zwecken zurückgelegt werden, sind zusätzlich auch von diesen mittelbar betriebsbezogenen Zwecken geprägt. Wenn beide betriebsbezogenen Merkmale, das letztgenannte notwendige Handlungsziel und die Betriebsbedingtheit des Weges zur Nahrungsaufnahme oder zur Beschaffung von Getränken oder Lebensmitteln zum Verzehr während der Arbeit, vorliegen, steht auch ein solcher Weg im inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis, so daß dem Versicherten der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gewährleistet ist. Nach den unangegriffenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) haben diese Merkmale bei dem unfallbringenden Weg der Klägerin vorgelegen.

Soweit der Beklagte meint, in früheren Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) abweichende Meinungen gefunden zu haben, ist er auf das Urteil des Senats vom 6. Dezember 1989 (a.a.O.) zu verweisen, in dem der Senat mit weiteren Nachweisen darauf hingewiesen hat, daß die Rechtsprechung schon bisher von diesen rechtlichen Zusammenhängen ausgegangen ist. Dort, wo scheinbar Entgegenstehendes formuliert worden ist oder Fragen dieser Art offengelassen worden sind, beruht die jeweilige Entscheidung nicht auf solchen abweichenden Formulierungen oder der abweichenden Beantwortung dieser offengelassenen Fragen. Diese Fragen hat der Senat vielmehr in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung der vor allem von der Verwaltungspraxis geforderten Einschränkung einer zu weitgehenden Kasuistik beantwortet.

Die Bedenken, die der Beklagte gegen diese jüngste Rechtsprechung des Senats vorträgt, vermag der Senat nicht zu teilen. Der Versicherte, der sich während der Arbeitszeit bemüht, durch das Besorgen eines Getränkes zum alsbaldigen Verzehr wesentlich auch seiner Arbeitskraft zu dienen, um seine Betriebstätigkeit vollauf fortsetzen zu können, handelt insoweit jedenfalls auch im Unternehmerinteresse. Schon die Frage, ob es der Versicherten später tatsächlich gelungen ist, nach dem Löschen ihres Durstes die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist nach den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung rechtsunerheblich. Erst recht sind die Gründe, derentwegen die Arbeitskraft zu erlahmen droht, und seien sie vom Beklagten als Ergebnis eines ungesunden oder gar verbotenen Vorlebens noch so sehr mißbilligt, im Regelfall – wie auch hier – versicherungsrechtlich jedenfalls so lange unerheblich, als die Tilgung des Hungers oder das Löschen des Durstes wesentlich auch der Arbeitskraft zu dienen bestimmt ist.

Die Versicherte unterliegt grundsätzlich in dem körperlichen und geistigen Zustand dem Unfallversicherungsschutz, in dem sie ihre versicherte Tätigkeit verrichtet. Muß – um an die Beispiele der Revision anzuschließen – ein Beschäftigter nach einer privaten Feier mit Alkoholgenuß oder wegen eines aus anderen, dem privaten Bereich zuzurechnenden Gründen reduzierten Kräftezustandes die sonst in zwei Arbeitsgängen zu erledigenden Verrichtungen auf vier Arbeitseinheiten ausdehnen, so ist er bei allen vier und nicht nur bei den ersten beiden Verrichtungen versichert. Es erscheint außerdem weiterhin nicht überzeugend, bei einem Beschäftigten, der sich bei einer privaten Feier den Magen verdorben hat, den Versicherungsschutz – wie seit jeher in der Praxis – auch bei einem nur dadurch bedingten Aufsuchen der Toilette zu gewähren, ihn aber zu verneinen, wenn als Folge der Feier ein Durstgefühl auftritt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 610424

BB 1993, 2454

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