Entscheidungsstichwort (Thema)

Zusammentreffen von Widerspruch und Klageerhebung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsakts, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ist nicht deshalb unzulässig, weil vor Klageerhebung der Widerspruch erhoben, darüber aber noch nicht entschieden worden ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei einem Zusammentreffen von Widerspruch und Klageerhebung ordnet das Gesetz zwar die Priorität des Widerspruchs an, schließt jedoch das Zusammentreffen der Rechtsbehelfe an sich nicht aus.

 

Normenkette

SGG § 78 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.06.1976; Aktenzeichen L 9 V 25/76)

SG Dortmund (Entscheidung vom 21.01.1976; Aktenzeichen S 16 V 140/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 1976 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Mit Bescheiden vom 30. Juli und 31. Juli 1975 setzte das Versorgungsamt dem Kläger gegenüber den früher auf 70 vH festgesetzten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 50 vH herab, verneinte im Unterschied zu früher ein besonderes berufliches Betroffensein, stellte die Zahlung eines Berufsschadensausgleichs ein und lehnte einen erneut gestellten Antrag auf Erhöhung der Versorgungsleistungen ab.

Gegen die Bescheide wandte sich der Kläger mit mehreren Eingaben, die am 4. und 7. August 1975 beim Versorgungsamt eingingen und die gemäß § 86 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als einheitlicher Widerspruch angesehen wurden. Außerdem erhob er in Schriftsätzen, die am 5. und 13. August 1975 zum Sozialgericht (SG) gelangten, die Klage. In den Widerspruchsschriften hatte er auf die Absicht der Klageerhebung hingewiesen und erklärt, er werde diesen Rechtsbehelf weiterverfolgen, wenn nicht umgehend neue Bescheide ergingen. Das SG hat die Klage abgewiesen; die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil des SG Dortmund vom 21. Januar 1976; Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 1976). Die Statthaftigkeit der Berufung ergab sich für das LSG daraus, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Lungenabszeß und der Verwundung des Klägers während des Kriegsdienstes streitig sei. Beide Vorinstanzen haben die Klage für unzulässig gehalten. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt: Das Recht der Wahl zwischen Widerspruch und Klage, wie es § 78 Abs 2 Satz 1 SGG vorsehe, bestehe nur so lange, wie nicht einer der Rechtsbehelfe erhoben sei. Wer dagegen, wie der Kläger, den Widerspruch wirksam angebracht habe, könne nicht auch noch wirksam klagen. Die Anfechtungsklage sei nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG nur "ohne" das Vorverfahren, nicht aber "neben" diesem angängig. Niemand vermöge sein Recht auf zwei Wegen zu suchen. Mit Erhebung des Widerspruchs habe das Vorverfahren begonnen und sei die unmittelbare Klage versperrt gewesen. Auch habe der Kläger nicht nachträglich auf den anderen Rechtsbehelf "umschwenken" können. Dies verbiete sich aus Gründen eines geordneten Verfahrens.

Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er ist der Ansicht, daß er eine Wahl zwischen Widerspruch und Klage nicht getroffen habe. Das LSG gehe vom früheren Beginn des Vorverfahrens aus, weil es dafür das zufällige Datum maßgeblich sein lasse, an dem der entsprechende Schriftsatz bei der Behörde eingetroffen sei. Dies sei nicht richtig. Vor Ablauf der gesetzlichen Frist für die Klageerhebung könne dieser Rechtsbehelf nicht ausgeschlossen sein. Wenn der Gesetzgeber etwas anderes gewollt hätte, hätte er es, wie für das Verhältnis von Sprungrevision und Berufung (§ 161 Abs 5 SGG), anordnen müssen. Im übrigen gebe § 78 Abs 2 SGG keine Antwort auf die Frage, wie zu verfahren sei, wenn sowohl Klage als auch Widerspruch eingeleitet seien.

Der Kläger beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er meint, § 78 Abs 2 Satz 1 Halbs 2 SGG messe für ein Nebeneinander von Klage und Vorverfahren letzterem den Vorrang bei. Deshalb sei die Klage zu Recht als unzulässig behandelt worden.

Am 20. September 1976 - das war nach der Verkündung des Berufungsurteils - erließ der Beklagte den Widerspruchsbescheid.

 

Entscheidungsgründe

Die Fristen zur Einlegung und Begründung der Revision (§ 164 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGG) sind zwar versäumt; dagegen ist dem Kläger aber auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 SGG). Denn er war durch Armut gehindert, diese Fristen einzuhalten. Nach Bewilligung des Armenrechts hat er die versäumten Prozeßhandlungen rechtzeitig nachgeholt.

Die Revision des Klägers ist begründet

Die Vorinstanzen gehen davon aus, daß im Streitfall Widerspruch und Klage miteinander konkurrierten. Ob dies der wahren Verfahrenslage sowie dem erkennbar wirklichen - und maßgeblichen - Willen des Klägers entsprach und entspricht, ist zweifelhaft und hätte geklärt werden sollen. Immerhin hatte der Kläger von Anbeginn an seine Absicht betont, die Klage ohne Zwischenstufe zu verfolgen. Auch hatte er alsbald nach Einlegung der Rechtsbehelfe gegenüber der Versorgungsverwaltung auf deren Anfrage erklärt (Schreiben vom 14.8.1975), er habe "gleich Klage" erhoben und ihm gehe es darum, daß die angefochtenen Bescheide nicht direkt vollzogen würden. Vorstellung und Interesse des Klägers waren also dergestalt, daß der Widerspruch in sich fragwürdig erscheinen mußte. Unter diesen Umständen durfte das LSG die Klage keineswegs ohne weiteres als unzulässig abweisen.

Die Abweisung der Klage ist aber auch allgemein rechtlich nicht zu billigen. In vergleichbaren Fällen hat das Bundessozialgericht (BSG) schon früher die Erledigung der Klage durch Prozeßurteil zu vermeiden gewußt, und zwar obgleich bisher der Mangel des vorgeschriebenen Vorverfahrens als unverzichtbare, in jeder Lage des Verfahrens zu beachtende Prozeßvoraussetzung angesehen wurde, vor deren Erfüllung ein Sachurteil nicht ergehen durfte (BSGE 4, 246; 8, 3, 9). Trotz Unzulässigkeit der Klage und obgleich nach § 95 SGG ursprünglicher Verwaltungsakt und Widerspruchsbescheid der Klage vorauszugehen haben, hat das BSG angenommen, das Vorverfahren könne noch während des Prozesses nachgeholt werden. "Um Gelegenheit" zu seiner Durchführung zu geben, wurde die Sache sogar an das Berufungsgericht zurückverwiesen (BSGE 16, 21, 24; 19, 164, 167; 20, 199, 201; 25, 66, 68). Es wurde ein Verfahrensmangel darin erblickt, daß die Klage als unzulässig abgewiesen wurde, wenn vorher die Möglichkeit zum Vorverfahren nicht eröffnet worden war (BSGE 25, 68; 20, 201). Von dieser Rechtsauffassung ist unter der Herrschaft des neuen Rechts erst recht auszugehen. Nunmehr erklärt § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ausdrücklich, daß die Klage auf Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsakts, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, "auch ohne Vorverfahren" zulässig ist. Um diesen Sachverhalt geht es hier. Die Verwaltung hatte über einen Rechtsanspruch des Klägers abschlägig befunden.

Für die Rechtsfolge, daß wegen Fehlens der Widerspruchsentscheidung die Klage nicht einfach der Abweisung verfällt, ist es gleichgültig, ob der Widerspruch noch erst zu erheben oder bereits vor Anhängigkeit der Klage erhoben worden ist. Allerdings ist § 78 Abs 2 SGG zu entnehmen, daß ein Nebeneinander von Vorverfahren und Rechtsstreit verhindert werden soll. Für Fälle dieser Art ordnet das Gesetz die Priorität des Widerspruchs an. Es schließt ein Zusammentreffen der Rechtsbehelfe aber nicht schlechthin aus, läßt im besonderen die zeitliche Reihenfolge nicht maßgebend dafür sein, daß der ältere Rechtsbehelf den späteren ausschließe (aA, jedoch ohne nähere Begründung: Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit S. 286, Anm 5 b zu § 78 SGG: mit Ausübung der Wahl zwischen Klage und Widerspruch sei das Wahlrecht verbraucht). Dem durch einen Verwaltungsakt Betroffenen wird der zusätzliche Weg zur höheren Verwaltungsbehörde angeboten, ohne daß mit Rücksicht hierauf der Rechtsweg beschränkt oder verzögert würde. Von dem Betroffenen wird nicht der Verzicht auf die Klage in diesem Zeitpunkt verlangt (vgl BVerfGE 9, 194, 199).

Um einer doppelten Rechtsverfolgung zu gleicher Zeit zu begegnen und um die selbständig konkurrierenden Rechtsbehelfe in ein sinnvolles Zueinander zu bringen, boten sich bei der gegebenen Verfahrenslage dem LSG zwei Lösungen an. Entweder sah es deshalb, weil der Beklagte die Klage - wenigstens zunächst - als unbegründet abzuweisen beantragt hatte, das Vorverfahren als gescheitert an (BVerwG DVBl 1959, 777; BGH NJW 1972, 634; Bettermann DVBl 1959, 308, 313) oder es forderte, falls es Zweifel an der Einstellung des Beklagten zur Sache hatte, diesen auf, Stellung zu nehmen, ob er an seinem ablehnenden Bescheid festhalte. Wäre die Antwort des Beklagten nicht eindeutig ausgefallen oder hätte sie Bedenken offengelassen, so war ihm aufzugeben, das Vorverfahren zu Ende zu führen.

Im letzteren Falle würde das Berufungsgericht nach der Richtlinie vorgehen, die durch die herkömmliche - oben erwähnte - Rechtsprechung des BSG aufgezeigt ist. Dies liefe - wie Bettermann, DVBL 1959, 314, im einzelnen dargetan hat - auf eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Widerspruchsentscheidung analog § 114 Abs 2 SGG (§ 148 Zivilprozeßordnung) hinaus. Die Aussetzung liegt zwar im Ermessen des Gerichts, erweist sich aber bei der gegebenen Situation im allgemeinen als zweckmäßig und angezeigt. Der alsdann ergehende Widerspruchsbescheid würde gemäß § 96 SGG Gegenstand des laufenden Prozeßverfahrens; ein zweiter Prozeß würde vermieden (BSG Urteil vom 1. Oktober 1964 - 11/1 RA 127/62 -).

Der anderen - oben als erste angedeuteten - Lösung, nämlich daß der mit Sachargumenten begründete Klagabweisungsantrag der Verwaltung den Widerspruchsbescheid entbehrlich mache oder ersetze, stehen keine rechtsförmlichen und rechtsdogmatischen Hemmnisse entgegen. Die Ansichten darüber, ob der Widerspruchsbescheid wegen der sachlichen Einlassung der Behörde im Prozeß zumindest dann überflüssig ist, wenn - wie regelmäßig in der KOV und so auch hier (§ 85 Abs 2 Nr 1 SGG; BSG NJW 1963, 1374) - die Behörde und die Widerspruchsstelle identisch sind, waren vor der Neuordnung des § 78 SGG durch das Änderungsgesetz vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) geteilt (vgl BSGE 20, 199, 200 f; einerseits: BSGE 8, 3, 10; 19, 164, 167; BSG NJW 1963, 1374; Menger, Verwaltungsarchiv 54, 1963, 402, 403; ders. zurückhaltender: Verwaltungsarchiv 58, 1967, 293; Schumann NJW 1965, 2090; andererseits BVerwG DVBl 1959, 777; BVerwG NJW 1967, 1976, 1977; BGH NJW 1972, 634, 635; einschränkend: BVerwG ZLA 1966, 77; ferner Bettermann DVBl 1959, 308, 313; Haueisen, NJW 1961, 2329, 2330 f). Die Neuregelung des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG hat jedoch die Austauschbarkeit von Klage und Widerspruch sowie damit auch die Befugnis der Umdeutung von Prozeßerklärungen in Verwaltungserklärungen erleichtert. In diese Richtung weist die Vorschrift des § 85 Abs 4 SGG, die in Angelegenheiten der Sozialversicherung die Widerspruchsstelle ermächtigt, den Widerspruch, dem sie nicht stattgeben will, dem zuständigen SG "als Klage" zuzuleiten, wenn der Widerspruchsführer zustimmt. Daß Prozeßhandlungen und Vorgänge des Vorverfahrens einander im Sinne einer Entsprechung gleichgesetzt werden, erscheint namentlich angebracht, wenn die Verwaltung über einen Rechtsanspruch zu befinden hat. Dieses Ergebnis wird durch den Zweck der Neuordnung nahegelegt (allgemein zum Zweck des Vorverfahrens: Bettermann DVBl 1959, 311; Menger, Verwaltungsarchiv, 59, 1968, 181 f). Für die Rechtsgestaltung des § 78 SGG waren neben dem öffentlichen Interesse an einer Selbstkontrolle der Verwaltung und an einer Entlastung der Sozialgerichte (Sieb- und Filterfunktion) in besonderem Maße die Rücksicht auf die Belange und die Einstellung des rechtsschutzsuchenden Bürgers leitend. Seiner Entscheidung sollte es überlassen sein, ob er den Weg des Vorverfahrens beschreiten oder unmittelbar Klage erheben wolle (Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks 7/861 zu Nr 5; Bericht des zuständigen Bundestagsausschusses, Drucks 7/2024 Seiten 3, 4). Dem Wunsch des Bürgers nach Abkürzung der Verfahrensdauer wurde der Vorzug vor der Befürchtung gegeben, die erstinstanzlichen Gerichte könnten stärker belastet werden. Im Hinblick auf diese gesetzgeberischen Erwägungen erscheint die strenge Unterscheidung von Widerspruchsbescheid und Klageerwiderung unangemessen.

Welchem Lösungsmodell im Streitfalle zu folgen ist, braucht in diesem Rechtszuge nicht abschließend beurteilt zu werden. Das Berufungsgericht, an das der Rechtsstreit zurückzuverweisen ist, wird dieser Antwort enthoben sein, weil der Beklagte inzwischen den Widerspruchsbescheid erlassen hat. Dem LSG wird es nunmehr obliegen, über den erhobenen materiellen Anspruch zu entscheiden. Da in dieser Hinsicht die nötigen Feststellungen noch erst zu treffen sind, ist das Berufungsurteil aufzuheben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659658

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