Leitsatz (amtlich)

Ein gesetzlich vorgeschriebenes Vorverfahren kann auch noch nach Klageerhebung durchgeführt werden. Ist der Widerspruchsbescheid jedoch erst nach Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ergangen und konnte er daher von dem Tatsachengericht nicht mehr berücksichtigt werden, so ist er für das Revisionsverfahren unbeachtlich; die Klage bleibt unzulässig.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei dem Anspruch auf sogenannte Geschiedenen-Witwenrente alten Rechts (RVO aF § 1256 Abs 4) handelt es sich um eine Ermessensleistung, so daß keine Leistungs-, sondern eine Vornahmeklage zu erheben ist, für die nach SGG § 79 zwingend die Durchführung eines Vorverfahrens vorgeschrieben ist.

In materieller Hinsicht ist der Anspruch der Klägerin aus dem Einsatz- Familienunterhaltsgesetz dem Unterhaltsanspruch aus dem Ehegesetz gleich. Bei Festlegung des maßgeblichen Zeitraums, währenddessen ein solcher Anspruch bestanden haben muß, kommt es auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten an.

 

Normenkette

SGG § 78 Fassung: 1953-09-03, § 79 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1256 Abs. 4 Fassung: 1942-06-22

 

Tenor

1) Das Gesuch der Klägerin um Bewilligung des Armenrechts wird abgelehnt.

2) Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts in Schleswig vom 7. Januar 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die im Jahre 1921 geborene Klägerin heiratete am 7. März 1940 den im Jahre 1917 geborenen, früher invalidenversicherungspflichtig beschäftigt gewesenen A... B.... Bei der Eheschließung war der Versicherte bereits Angehöriger der Wehrmacht. Aus der Ehe ist ein Kind hervorgegangen, welches aus der Rentenversicherung der Arbeiter Waisenrente bezieht. Durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Oktober 1942 wurde diese Ehe aus der Alleinschuld des Versicherten geschieden. Unterhaltsansprüche machte die Klägerin gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann nicht geltend. Bereits vor der Scheidung bezog sie Familienunterhalt nach dem Einsatz-Familienunterhaltsgesetz (EFUG) vom 26. Juni 1940 (RGBl I 911). Dieser Unterhalt wurde ihr nach der Scheidung weitergewährt; er wurde erst eingestellt, als sich der Versicherte im August 1943 unerlaubt von der Truppe entfernte. Ein Kriegsgericht verurteilte den Versicherten nach seiner Ergreifung zum Tode. Das Urteil wurde am 21. Juli 1944 vollstreckt.

Am 24. Juli 1956 hat die Klägerin beantragt, ihr Hinterbliebenenrente aus der Invalidenversicherung ihres früheren Ehemannes nach § 1256 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zu zahlen. Die Beklagte hat diesen Antrag durch Bescheid vom 18. Juni 1957 abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 1265 RVO nF, der gemäß Art. 2 § 19 der Übergangsvorschriften zum Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) nunmehr anwendbar sei, seien nicht gegeben. Der Versicherte sei infolge seiner Inhaftierung nicht in der Lage gewesen, der Klägerin Unterhalt zu leisten. Im übrigen sei die Klägerin seinerzeit auch nicht bedürftig gewesen, weil sie ihren Unterhalt zumindest auch aus eigenem Verdienst bestritten habe.

Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 4. Oktober 1957 die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides für verpflichtet erklärt, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Berechtigung zum Empfang einer Hinterbliebenenrente zu gewähren, wobei von einer Unterhaltsleistung des früheren Ehemannes im letzten Jahr vor seinem Tode auszugehen sei. Die Voraussetzungen des § 1265 RVO seien gegeben, da der Versicherte der Klägerin tatsächlich innerhalb des letzten Jahres vor seinem Tode dadurch Unterhalt geleistet habe, daß zumindest für die Monate Juli und August 1943 Familienunterhalt gezahlt worden sei. Es komme nicht darauf an, ob die Berechtigte diesen Unterhalt während des ganzen letzten Jahres vor dem Tode des Versicherten erhalten habe.

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 7. Januar 1959 zurückgewiesen. Die Klägerin habe sowohl für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 1956 nach § 1256 Abs. 4 RVO aF als auch vom 1. Januar 1957 an nach § 1265 RVO i.V.m. Art. 2 § 19 ArVNG Anspruch auf Witwenrente. Da es sich bei § 1256 Abs. 4 RVO aF um eine Kann-Leistung handele, komme es darauf an, ob der Beklagten bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung ein Ermessensfehler im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unterlaufen sei. Das sei der Fall. Die Beklagte habe nämlich von ihrem Ermessen überhaupt keinen Gebrauch gemacht, da sie den Anspruch auch für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 nach § 1265 RVO abgelehnt habe. Bei der notwendigen Handhabung des pflichtgemäßen Ermessens hätte die Beklagte nach ihrer allgemeinen Verwaltungsübung indes eine Rente bereits nach altem Recht zuerkennen müssen, da die vorgenannten Anspruchsvoraussetzungen gegeben seien. Die Klägerin habe für das waisenrentenberechtigte Kind zu sorgen gehabt. Ihre Ehe sei durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Oktober 1942 aus dem Alleinverschulden des Versicherten geschieden worden. Dieser hätte ihr auch "zur Zeit des Todes" Unterhalt nach dem derzeit anwendbaren § 66 des Ehegesetzes (EheG) vom 6. Juli 1938 zu leisten gehabt. Zwar sei er im Zeitpunkt des Todes und vor seinem Tode nicht mehr zur Unterhaltsleistung in der Lage gewesen; denn er sei bereits inhaftiert gewesen. Wegen des Wegfalls dieser Unterhaltsvoraussetzung könne es daher ungeprüft bleiben, ob die Klägerin trotz ihres vom März 1944 an erzielten Arbeitsverdienstes noch bedürftig im Sinne des EheG gewesen sei. Bei der rechtlichen Würdigung sei aber nicht unmittelbar auf die Einkommensverhältnisse der Beteiligten im Zeitpunkt des Todes abzustellen. Vielmehr sei das Tatbestandsmerkmal "zur Zeit des Todes" weit auszulegen. Hierunter könne kein eng begrenzter Zeitraum, insbesondere nicht nur der Todesmonat, verstanden werden. Vielmehr könnten Unterbrechungen tatsächlicher Unterhaltsleistungen durch Leistungsunfähigkeit, die nicht länger als ein Jahr dauerten, als unwesentlich angesehen werden. In Ausnahmefällen könne dieser Zeitraum bis auf zwei Jahre ausgedehnt werden. Selbst in dem Zeitraum von einem Jahr vor dem Tode des Versicherten, also in der Zeit vom 21. Juli 1943 bis zum 21. Juli 1944, habe für einen nicht nur geringfügigen Zeitabschnitt ein realisierbarer Unterhaltsanspruch insoweit bestanden, als die Klägerin nach dem EFUG zumindest während der Monate Juli und August 1943 Leistungen zu beanspruchen gehabt hätte und auch tatsächlich erhalten habe. Diese Leistungen hätten eine Ersatzfunktion gehabt, denn sie sollten den Unterhalt ersetzen, den der geschiedene Ehemann nach § 66 EheG zu leisten gehabt hätte, wenn er nicht Soldat gewesen wäre. Die Unterbrechung dieser Unterhaltsleistung, die nach § 4 Abs. 7 Ziff. 1 c der Durchführungsverordnung zum EFUG (vgl. RGBl 1940, 913) erfolgt sei, könne hier nicht zu Lasten der Klägerin gehen, zumal nach dem Beweisergebnis nicht ersichtlich sei, daß der Versicherte sich von der Truppe entfernt habe, um sich seiner Unterhaltspflicht zu entziehen. Im Vordergrund stehe vielmehr der Umstand, daß die Unterhaltsleistungen für Juli und August 1943 Ausdruck des Willens zu einer regelmäßigen Unterhaltsgewährung gewesen seien, zumal sie, wenn man den Zeitraum von zwei Jahren vor dem Tode zugrunde lege, immerhin von der Scheidung bis Ende August 1943, also fast ein Jahr lang ununterbrochen erbracht worden seien. Die Anspruchsvoraussetzungen nach altem Recht seien mithin gegeben.

Vom 1. Januar 1957 an sei der Anspruch auch nach § 1265 RVO nF begründet. Hinsichtlich des Unterhalts nach den Vorschriften des EheG gelte das zu § 1256 Abs. 4 RVO aF Gesagte gleichermaßen, so daß der Anspruch schon aus diesem Grunde auch nach der neuen Fassung begründet sei. Darüber hinaus habe der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode auch tatsächlich Unterhalt geleistet. Es sei nicht erforderlich, daß der Unterhalt während des ganzen letzten Jahres ununterbrochen erbracht worden sei. Vielmehr genüge es, wenn in diesem Zeitraum wiederkehrende oder einmalige Zahlungen geleistet worden seien, die Ausdruck eines Unterhaltswillens gewesen seien und dementsprechend Unterhaltscharakter gehabt hätten. Würden diese Leistungen durch außergewöhnliche Ereignisse unterbrochen, so könne hieraus nicht ohne weiteres auf den Willen des Versicherten geschlossen werden, den Unterhalt nicht mehr leisten zu wollen. Diese Auslegung ergebe sich schon aus der Fassung des Gesetzes, denn es heiße dort nicht "im ganzen letzten Jahr", sondern "im letzten Jahr".

Gegen dieses ihr am 22. Juni 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 7. Juli 1959, eingegangen am 9. Juli 1959, Revision eingelegt und diese durch Schriftsatz vom 19. August 1959, eingegangen am 20. August 1959, begründet.

Sie rügt die Verletzung des § 103 SGG sowie der §§ 1256 RVO aF und 1265 RVO. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts stände der Klägerin kein Anspruch auf Geschiedenen-Witwenrente nach § 1256 Abs. 4 RVO aF zu; denn ihr geschiedener Ehemann sei zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG zu keiner Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen. Voraussetzung für die Unterhaltspflicht sei die Leistungsfähigkeit des schuldhaft geschiedenen Ehemannes. Wie das LSG zutreffend festgestellt habe, sei der geschiedene Ehemann im Zeitpunkt seines Todes aber nicht mehr unterhaltsfähig gewesen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei er aber auch schon seit der Entfernung von der Truppe im Sommer 1943, wenn nicht sogar bereits seit der Ehescheidung zum Unterhalt unfähig gewesen. Dafür spreche einerseits, daß er seit der Ehescheidung keinen Unterhalt geleistet habe und die Klägerin, obwohl sie schuldlos geschieden sei, keinerlei Unterhaltsansprüche gegen ihn geltend gemacht hätte, sowie, daß sie Familienunterstützung nach dem EFUG vom 26. Juni 1940 (RGBl 1940 I 911) bezogen habe. Das EFUG setzte nach seinem Sinn und Zweck die Leistungsunfähigkeit des Wehrmachtsangehörigen gegenüber seinen Familienangehörigen voraus. Schon aus diesen Tatsachen dürfte mit hinreichender Sicherheit zu schließen sein, daß der geschiedene Ehemann zur Zeit seines Todes unterhaltsunfähig gewesen sei. Zumindest hätte das Berufungsgericht, da sich die Zweifel an der Leistungsfähigkeit geradezu aufdrängten, aufklären müssen, ob der geschiedene Ehemann der Klägerin leistungsfähig war. Da es keine ausreichende Beweiserhebung hierüber angestellt habe, habe es die ihm obliegende Aufklärungspflicht verletzt. Die Feststellung des Berufungsgerichts, es habe in dem Jahr vor dem Tode des Versicherten ein realisierbarer Unterhaltsanspruch nach den Vorschriften des EFUG bestanden, sei rechtsirrtümlich. Das Berufungsgericht habe außer acht gelassen, daß sich der Anspruch der Klägerin auf Familienunterstützung nach dem EFUG nicht gegen den geschiedenen Ehemann, sondern gegen den in dem EFUG bestimmten Fürsorgeträger gerichtet habe. Es sei als unerheblich anzusehen, ob den Leistungen nach dem EFUG eine Ersatzfunktion für den familienrechtlichen Unterhaltsanspruch beizumessen sei, wie das Berufungsgericht meine, entscheidend dürfte vielmehr sein, daß es sich bei dem Anspruch auf Familienunterstützung nach dem EFUG nicht um einen bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch, sondern um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch der Familienmitglieder des Wehrmachtsangehörigen gegen die öffentliche Hand handele. Es sei ein öffentlich-rechtlicher Anspruch eigener Art und rein fürsorgerischer Natur, der nach Grund und Höhe in den Vorschriften des EFUG - abweichend von den Vorschriften des EheG - besonders geregelt gewesen sei. Aus der Tatsache, daß der Klägerin eine Familienunterstützung nach dem EFUG gewährt worden sei, könne daher auch nicht gefolgert werden, daß der Versicherte nach den Vorschriften des EheG unterhaltspflichtig gewesen sei. Im übrigen habe das Berufungsgericht nicht gewürdigt, daß auch die Voraussetzungen für die Gewährung des Familienunterhalts nach § 4 Abs. 7 Ziff. 1 c der Durchführungsverordnung zum EFUG (RG Bl. 1940 I 913) infolge der unbefugten Entfernung des geschiedenen Ehemannes von seiner Truppe im Sommer 1943 bereits entfallen seien.

§ 1265 RVO erste Alternative setze ebenso wie § 1256 RVO aF voraus, daß der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG Unterhalt zu leisten hatte. Dies sei aber nicht der Fall.

Seit der Ehescheidung habe der geschiedene Ehemann nach dem eigenen Sachvortrag der Klägerin keine Unterhaltsleistung erbracht, so daß auch die dritte Alternative des § 1265 RVO nicht als erfüllt angesehen werden könne. Die der Klägerin möglicherweise in den Monaten Juli und August 1943 gewährte Familienunterstützung nach dem EFUG habe nicht der geschiedene Ehemann, sondern der zuständige Fürsorgeträger geleistet. Es handele sich dabei um eine öffentliche Fürsorgeleistung eigener Art, nicht aber um eine Unterhaltsleistung durch den geschiedenen Ehemann.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Berufungsgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg jedenfalls zum Teil nicht versagt bleiben.

Das Revisionsgericht hat bei zulässiger Revision von Amts wegen zu prüfen, ob Klage und Berufung zulässig sind. Diese Prüfung hat ergeben, daß die Klage im vorliegenden Falle unzulässig ist. Die Klägerin begehrt in erster Linie die Gewährung von Witwenrente (sog. Geschiedenenwitwenrente) alten Rechts nach § 1256 Abs. 4 RVO aF vom 1. August 1956 an. Da es sich bei dieser Rente um eine Ermessensleistung handelt, kann nur die Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids und Verpflichtung zum Erlaß eines die Rente gewährenden neuen Bescheids zulässig sein. Bedenkenfrei haben die Vorinstanzen die erhobene Klage daher auch als Verpflichtungsklage aufgefaßt: Das SG hat ein Verpflichtungsurteil erlassen, und das Berufungsgericht hat dieses Urteil bestätigt. Dabei haben die Vorinstanzen aber nicht bedacht, daß dieser Klage nach § 79 SGG ein Vorverfahren vorausgehen muß. Daran aber fehlt es hier. Dieser Mangel ist von Amts wegen auch noch in der Revisionsinstanz zu beachten (BSG 8, 3 [9]). Zwar kann das Vorverfahren noch nachgeholt werden, und es genügt, wenn der Widerspruchsbescheid bis zum Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ergangen und von dem Tatsachengericht noch berücksichtigt worden ist. Dagegen kann das Revisionsgericht einen erst danach erlassenen und daher von dem Tatsachengericht nicht mehr berücksichtigten Widerspruchsbescheid nicht beachten, sondern muß die Klage als unzulässig ansehen. Andernfalls würde es vielfach jedenfalls an einer gerichtlichen Überprüfung des maßgebenden Inhalts des Verwaltungsaktes überhaupt mangeln. Dies wäre, da nach § 95 SGG Gegenstand der Klage, falls ein Vorverfahren stattgefunden hat, der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, der Fall, wenn die Widerspruchsstelle auf Grund von ihr durchgeführter neuer Ermittlungen dem Widerspruchsbescheid einen von dem ursprünglichen Verwaltungsakt abweichenden Tatbestand zugrunde gelegt hätte. Das Tatsachengericht hat diese Überprüfung nicht vorgenommen, weil ihm der neue Sachverhalt nicht bekannt war. Das Revisionsgericht aber wäre nicht in der Lage, den Verwaltungsakt mit dem ihm nunmehr zugrunde gelegten Sachverhalt zu überprüfen, da es nach § 163 SGG grundsätzlich an die von dem Tatsachengericht getroffenen Feststellungen gebunden und daher nicht in der Lage ist, einen anderen Sachverhalt als den vom Berufungsgericht festgestellten auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Einer Überprüfung durch das Revisionsgericht würde auch das für die Revisionsinstanz geltende Verbot der Klageänderung (§ 168 SGG) entgegenstehen. Nach Erlaß des Widerspruchsbescheids wäre, wenn sich der Rechtsstreit nicht durch den Widerspruchsbescheid in der Hauptsache erledigen sollte, eine Klageänderung erforderlich, da sich die Klage nunmehr auch gegen den Widerspruchsbescheid richten müßte. Es kann dahingestellt bleiben, ob die in § 99 Abs. 3 SGG vorgesehenen Ausnahmen von dem Verbot einer Klageänderung im Grundsatz auch für die Revisionsinstanz gelten. Selbst wenn man dies bejahen würde, könnte dies doch nur insoweit zutreffen, wie sich daraus nicht die Notwendigkeit neuer Tatsachenfeststellungen ergeben würde, die dem Revisionsgericht versagt sind. Neue Tatsachenfeststellungen aber könnten notwendig sein, wenn dem Widerspruchsbescheid neue Tatsachen, die von dem vom Berufungsgericht festgestellten Tatbestand abweichen, zugrunde gelegt wären. Hinzu kommt, daß nach § 171 Abs. 2 SGG der während des Revisionsverfahrens erlassene Widerspruchsbescheid, falls durch ihn der ursprüngliche Bescheid abgeändert wird, als mit der Klage beim SG angefochten gilt, so daß das Revisionsgericht in diesem Verfahren über ihn überhaupt nicht entscheiden könnte.

Richtig ist, daß diese Bedenken gegen die Berücksichtigung eines erst nach Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ergangenen Widerspruchsbescheids weitgehend entfallen würden, wenn der Widerspruchsbescheid lediglich die Zurückweisung des Widerspruchs aussprechen würde. Es geht aber kaum an, die Frage, ob ein Widerspruchsbescheid in der Revisionsinstanz noch beachtet werden kann, von dem Ergebnis des Widerspruchsverfahrens abhängig zu machen. Zumindest wäre es unangebracht, wenn das Revisionsgericht anregen würde, das fehlende Widerspruchsverfahren nachzuholen, obwohl es weiß, daß es dann, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt durch den Widerspruchsbescheid abgeändert wird, die Klage als unzulässig ansehen müßte.

Trotz der hiernach gegebenen Unzulässigkeit der Klage hat der erkennende Senat es nicht für tunlich gehalten, in der Sache selbst zu entscheiden, sondern hat von der Ermächtigung des § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG Gebrauch gemacht und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, um Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren noch während des neuen Verfahrens vor dem Tatsachengericht durchzuführen, damit dieses den Widerspruchsbescheid noch berücksichtigen kann und die Klägerin in der Lage ist, die Klage entsprechend zu ändern.

Das Berufungsgericht wird die Beklagte, falls sich der Rechtsstreit nicht durch den Widerspruchsbescheid in der Hauptsache erledigen sollte, allenfalls verpflichten können, unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides einen neuen Bescheid zu erlassen. Zuzugeben ist dem Berufungsgericht, daß das Gericht, falls eine Ermessensausübung überhaupt nur zu einem Ergebnis, der Zuerkennung des materiellen Anspruchs, führen kann, ausnahmsweise auch selbst diesen Anspruch zuerkennen könnte (vgl. Urteil des 3. Senats des BSG - 3 RK 33/57 -). Hier wäre dies jedoch schon deshalb nicht möglich, weil nach § 1256 Abs. 4 RVO aF die Gewährung dieses Anspruchs von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde der Beklagten abhängig ist, ein Gericht aber seine Entscheidung nicht von der Zustimmung einer Verwaltungsbehörde abhängig machen kann. Allenfalls könnte die Beklagte in solchen Fällen angewiesen werden, ihr Ermessen, falls die Aufsichtsbehörde der Rentengewährung zustimmt, dahin auszuüben, der Klägerin die beantragte Rente zu gewähren. Das Berufungsgericht dürfte aber, wenn es diesen Weg beschreitet, noch eingehender zu prüfen und zu begründen haben, ob hier wirklich das Ermessen der Beklagten, falls die gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen der Ermessensausübung erfüllt sind, nur in einer Richtung ausgeübt werden kann. Wenn auch dem Berufungsgericht zuzugeben ist, daß ein solcher Fall gegeben sein könnte, wenn die Beklagte bei Vorliegen dieser Voraussetzungen und bei Zustimmung der Aufsichtsbehörde stets diese Rente zu gewähren pflegt da dann eine andere Ermessensausübung gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstoßen würde, so reicht doch der in dem angefochtenen Urteil gegebene kurze Hinweis als Begründung einer solchen Entscheidung nicht aus.

Im übrigen erscheint die Annahme des Berufungsgerichts, daß die Verpflichtung der öffentlichen Hand zu Leistungen nach dem EFUG an die geschiedene Ehefrau eines zur Wehrmacht eingezogenen Soldaten der Unterhaltsverpflichtung des früheren Ehemannes an die geschiedene Frau nach dem EheG bei Anwendung des § 1256 Abs. 4 RVO aF gleich zu behandeln ist, wenn der Versicherte vor seinem Tode nur deshalb nicht unterhaltspflichtig nach dem EheG war, weil er Wehrdienst leistete, frei von Rechtsirrtum. Die nach dem EFUG bestehende Unterhaltsverpflichtung der öffentlichen Hand gegenüber der geschiedenen Ehefrau ist Ersatz für die infolge des Wehrdienstes entfallene Unterhaltsverpflichtung des Soldaten gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau. Es wäre kaum verständlich, wenn der geschiedenen Ehefrau eines Soldaten ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente, die ihr sonst zustehen würde, versagt bliebe, nur weil ihr früherer Ehemann vor seinem Tode infolge des Wehrdienstes nicht unterhaltsfähig und daher nicht unterhaltspflichtig gewesen ist.

Das Berufungsgericht wird jedoch auch die Frage, während welchen Zeitraums vor dem Tode des Versicherten die Unterhaltsverpflichtung bestanden haben muß, erneut - unter Berücksichtigung der inzwischen ergangenen Entscheidungen des erkennenden Senats vom 23. März 1961 (SozR RVO § 1266 Bl. Aa 1 Nr. 1 und Aa 3 Nr. 2) sowie vom 16. Juni 1961 (SozR RVO § 1265 Aa 7 Nr. 8) - zu überprüfen haben, wonach es auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten ankommt.

Falls die Beklagte nach Verpflichtung zum Erlaß eines neuen Bescheids ihr Ermessen dahin ausübt, daß sie die Rente nicht gewährt, kann die Klägerin hiergegen erneut Klage erheben. Wird die Rente alten Rechts - sei es durch die Beklagte, sei es durch das Gericht - gewährt, so ist sie nach Art. 2 §§ 31 ArVNG umzustellen. Wird sie dagegen endgültig nicht gewährt, so ist zu prüfen, ob der Klägerin ein Anspruch nach neuem Recht für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 zusteht. Nur in diesem Falle kommt es auf die Rente neuen Rechts an. Dies hat das Berufungsgericht verkannt, wenn es meint, über die Rente neuen Rechts sei für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 stets zu befinden, also auch dann, wenn Rente alten Rechts gewährt werde.

Der Antrag auf Bewilligung des Armenrechts mußte schon deshalb abgelehnt werden, weil die Klägerin nach dem von ihr in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Armutszeugnis mit einem bereits im Jahre 1959 vorhandenen Nettoeinkommen (einschließlich des ihres minderjährigen Sohnes) von monatlich 378,98 DM nicht außerstande ist, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten (§ 167 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO). Es muß hierbei berücksichtigt werden, daß das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich kostenfrei ist (§ 183 SGG), so daß die Klägerin lediglich die für ihren Prozeßvertreter entstehenden Kosten aufzubringen hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1984219

BSGE, 21

NJW 1962, 1079

DVBl. 1963, 305

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