Leitsatz (redaktionell)
1. Der Bescheid, mit dem auf Grund des AVG § 80 eine zu Unrecht gewährte Leistung zurückgefordert wird, ist ein Verwaltungsakt iS des SGG § 79 Nr 1.
2. Unter SGG § 79 Nr 1 fällt auch ein Verwaltungsakt, der eine Regelung enthält, welche die Verwaltung nach ihrem vom Gesetz eingeräumten Ermessen zu treffen hat.
3. Das Gericht braucht den Beteiligten nicht noch Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren durchzuführen, wenn sich der Beklagte ausdrücklich weigert, einen Widerspruchsbescheid herbeizuführen.
Orientierungssatz
"Vorverfahrenspflichtig" ist nicht nur die Anfechtung von Verwaltungsakten, die eine "Ermessensleistung" ("Kannleistung") betreffen, sondern auch die Anfechtung anderer Verwaltungsakte, die eine Regelung enthalten, die die Verwaltung nach ihrem - vom Gesetz eingeräumten - Ermessen zu treffen hat.
Normenkette
SGG § 78 Fassung: 1953-09-03; AVG § 80; SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 30. März 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 14. Juli 1959 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1958. Sie benachrichtigte hiervon den Gemeindeunfallversicherungs-Verband H, weil bei diesem eine Untersuchung darüber lief, ob der Kläger durch eine Berufskrankheit erwerbsunfähig geworden sei. Der Gemeindeunfallversicherungs-Verband Hannover erließ am 24. September 1959 einen Bescheid über die erste Festsetzung einer vorläufigen Rente; in diesem Bescheid heißt es, daß für die Zeit vom 15. Mai bis 31. Oktober 1959 ein Rentenbetrag von 2229,70 DM zu zahlen sei, von diesem Betrag würden 700 DM an den Kläger überwiesen, der Rest werde zur Befriedigung eines Ersatzanspruches der Beklagten zunächst einbehalten; vom 1. November 1959 an erhalte der Kläger aus der Unfallversicherung eine Rente von monatlich 382,60 DM.
Mit Schreiben vom 20. November 1959 legte der Kläger diesen Bescheid der Beklagten vor. Die Beklagte berechnete darauf ihre Rentenleistung unter Berücksichtigung der Unfallrente neu; sie stellte dabei einen neuen monatlichen Zahlbetrag von 118,30 DM und eine Überzahlung von 1803,20 DM fest (Bescheid vom 22. Februar 1960). Dieser Bescheid enthält den Zusatz: "Der Bezug der Unfallrente bewirkt ein teilweises Ruhen der Versichertenrente ab Rentenbeginn (§ 55 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -); der überzahlte Betrag wird mit der einbehaltenen Spitzrente der Unfallversicherung verrechnet; der Bescheid vom 14. Juli 1959 wird hinsichtlich der Berechnung aufgehoben." Der Bescheid vom 22. Februar 1960 blieb unangefochten.
Mit Schreiben vom 5. März 1960 teilte die Beklagte dem Gemeindeunfallversicherungs-Verband H mit, daß durch die Neuberechnung der Rente des Klägers unter Berücksichtigung der Ruhensvorschrift des § 55 AVG eine Überzahlung von 1803,20 DM festgestellt sei; sie bat um Überweisung dieses Betrages aus der einbehaltenen Nachzahlung der Rente aus der Unfallversicherung des Klägers. Der Gemeindeunfallversicherungs-Verband H erwiderte darauf am 26. April 1960, er habe die Rentennachzahlung aus der Unfallversicherung bereits am 11. Januar 1960 an den Kläger gezahlt, weil die Beklagte bis zu diesem Zeitpunkt bei ihr keinen Ersatzanspruch geltend gemacht habe.
Mit Schreiben vom 9. Mai 1960 wandte sich die Beklagte wegen der "Überzahlung" des Ruhegeldes an den Kläger; sie wies darauf hin, daß der Gemeindeunfallversicherungs-Verband H die gesamte Spitzrente aus der Unfallversicherung an ihn ausgezahlt habe, und fügte hinzu, zur Tilgung des überzahlten Rentenbetrages in Höhe von 1803,20 DM werde der laufende Zahlbetrag der Rente des Klägers aus der Angestelltenversicherung um 50 DM monatlich, beginnend am 1. Juli 1960, gekürzt, falls der Kläger die Rückzahlung nicht lieber in einer Summe vornehmen wolle. Eine Rechtsmittelbelehrung enthält diese "Mitteilung" nicht.
Der Kläger erhob - nachdem ihm die Beklagte auf seine Gegenvorstellungen vom 16. Mai 1960 am 15. Juni 1960 mitgeteilt hatte, daß sie auf die Rückzahlung der Überzahlung nicht verzichten könne - am 14. Juli 1960 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover. Er machte geltend, der Gemeindeunfallversicherungs-Verband H habe ihm am 11. Januar 1960 mitgeteilt, daß die Beklagte keinen Ersatzanspruch geltend gemacht habe; hierauf habe er sich verlassen dürfen; wenn die Beklagte versäumt habe, den "überzahlten Rentenbetrag" bei dem Gemeindeunfallversicherungs-Verband als Ersatzanspruch geltend zu machen und ihn nunmehr von ihm - dem Kläger - zurückfordere, so verstoße sie gegen Treu und Glauben. Das SG wies die Klage mit Urteil vom 13. Juli 1961 ab: Der angefochtene Bescheid vom 9. Mai 1960 sei nach § 78 AVG rechtmäßig; der Einwand des Klägers, die Rückforderung verstoße gegen Treu und Glauben, greife nicht durch.
Der Kläger legte Berufung ein.
Er beantragte vor dem Landessozialgericht (LSG),
1. den Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 1960 und das Urteil des SG Hannover vom 12. Juli 1961 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verpflichten, von der Rückforderung des überzahlten Betrages von 1803,20 DM abzusehen,
hilfsweise,
das Urteil des SG Hannover aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats einen Widerspruchsbescheid zu erteilen.
Das LSG Niedersachsen hob auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG Hannover vom 13. Juli 1961 auf; es verurteilte die Beklagte, dem Kläger auf seinen Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 1960 einen Widerspruchsbescheid zu erteilen: Gegenstand des Rechtsstreits sei der Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 1960; durch diesen Bescheid habe die Beklagte von dem Kläger einen "überzahlten Rentenbetrag" von 1.803,20 DM zurückgefordert und diesen Betrag gegen den Anspruch des Klägers auf Zahlung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgerechnet; bei diesem Bescheid handele es sich um eine Ermessensentscheidung der Beklagten; der Klage habe daher nach § 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Vorverfahren vorangehen müssen. Die Klage sei als - rechtzeitig eingelegter - Widerspruch anzusehen; die Beklagte habe dem Widerspruch nicht abgeholfen; da die Beklagte sich geweigert habe, einen Widerspruchsbescheid herbeizuführen, sei sie auf den Hilfsantrag des Klägers nach den §§ 88 Abs. 2, 131 Abs. 3 SGG durch Urteil zu verpflichten, einen Widerspruchsbescheid zu erteilen. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde der Beklagten am 11. April 1962 zugestellt. Sie legte am 2. Mai 1962 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover zurückzuweisen.
Sie begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 1. Juli 1962: Das LSG habe die Vorschriften über das Vorverfahren (§§ 77 ff SGG) sowie die Vorschriften der §§ 78-80 AVG verletzt. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß nach § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren notwendig gewesen sei. Die Aufhebungsklage richte sich gegen einen Bescheid, durch den im Wege der "Neufeststellung" die laufende Rente des Klägers gekürzt werde; dieser Bescheid betreffe daher in seiner Gesamtheit eine auf einem Rechtsanspruch des Klägers beruhende Leistung; mit der Klage sei somit keine "Ermessensentscheidung" der Beklagten angefochten.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheides vom 9. Mai 1960. In diesem Bescheid hat die Beklagte verfügt, daß zur Tilgung "überzahlter Rentenbeträge" in Höhe von 1803,20 DM der laufende Zahlbetrag der Rente um 50 DM monatlich gekürzt werde, falls der Kläger die Rückzahlung der "Überzahlung" nicht in einer Summe vornehmen wolle. Der Kläger hält diesen Bescheid für rechtswidrig, weil die Rückforderung der "Überzahlung" gegen Treu und Glauben verstoße.
Das LSG hat zu Recht die Auffassung vertreten, der Kläger begehre "die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht", der Klage habe deshalb nach § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren vorangehen müssen. Die Vorschrift des § 79 Nr. 1 SGG bezweckt, die Klage auf Aufhebung von Verwaltungsakten, die nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur "eingeschränkt" gerichtlich überprüft werden dürfen (Ermessensentscheidungen), nur nach Durchführung eines Vorverfahrens zuzulassen; in diesen Fällen soll dem gerichtlichen Verfahren die "Selbstkontrolle der Verwaltung" vorgeschaltet werden; eine Widerspruchsstelle soll den Verwaltungsakt in vollem Umfange, also auch unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit und der Zweckmäßigkeit, nachprüfen. "Vorverfahrenspflichtig" ist deshalb nicht nur die Anfechtung von Verwaltungsakten, die eine "Ermessens leistung " ("Kann leistung ") betreffen, sondern auch die Anfechtung anderer Verwaltungsakte, die eine Regelung enthalten, die die Verwaltung nach ihrem - vom Gesetz eingeräumten - Ermessen zu treffen hat (vgl. insoweit BSG 3, 209, 215; 7, 292 mit weiteren Hinweisen; ferner Urteil des BSG 4 RJ 355/60 vom 9. August 1962).
Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 22. Februar 1960 wegen "teilweisen Ruhens der Versichertenrente" (§ 55 AVG) den Rentenbewilligungsbescheid vom 14. Juli 1959 teilweise zurückgenommen, einen neuen monatlichen Zahlbetrag errechnet und eine Überzahlung (der Rente aus der Angestelltenversicherung - AnV -) von 1803,20 DM festgestellt. Dieser Bescheid ist bindend geworden; seine Rechtmäßigkeit ist auch nicht streitig. Der angefochtene Bescheid vom 9. Mai 1960, mit dem die Beklagte "die festgestellte Überzahlung" und damit "zu Unrecht gewährte Leistungen" von dem Kläger zurückfordert, ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG; er beruht auf einer Ermessensentscheidung der Beklagten; die Beklagte braucht Leistungen, die sie zu Unrecht gewährt hat (§ 80 AVG), nicht zurückfordern. Das LSG hat deshalb zu Recht ein Vorverfahren als notwendig erachtet.
Der Auffassung der Beklagten, es bedürfe keines Vorverfahrens, weil der angefochtene Bescheid eine "Neufeststellung" der Rente (Rentenkürzung) enthalte und damit "in seiner Gesamtheit eine auf einem Rechtsanspruch beruhende Leistung betreffe", vermag der Senat nicht zu folgen. Der angefochtene Bescheid enthält keine Neuregelung des Rentenanspruchs; er enthält - neben der Feststellung der Pflicht des Klägers zur Rückzahlung der Überzahlung - lediglich eine Regelung über die Art und Weise der Tilgung des Rückzahlungsanspruchs der Beklagten. Es kann dahingestellt bleiben, ob bereits der Bescheid vom 22. Februar 1960, in dem es lediglich heißt, "der überzahlte Betrag wird mit der einbehaltenen Spitzrente verrechnet", auch die Feststellung enthält, daß der Kläger verpflichtet sei, eine Rentenüberzahlung von 1803,20 DM zurückzuzahlen; wenn dies der Fall ist, so hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Mai 1960 jedenfalls einen "neuen", die Rückerstattungspflicht regelnden, Verwaltungsakt erlassen; sie hat darin verfügt, daß - trotz der veränderten Sachlage, nämlich des Wegfalls der Verrechnungsmöglichkeit, - an der Feststellung der Pflicht des Klägers zur Rückzahlung der Überzahlung festgehalten werde. Entscheidend ist, daß die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid die Pflicht des Klägers zur Rückzahlung der Überzahlung - jedenfalls erneut - festgestellt und damit den Rückforderungsanspruch gegen den Kläger geltend gemacht hat; sie hat damit eine Ermessensentscheidung getroffen, also einen Verwaltungsakt im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG erlassen; es ist dabei unerheblich, in welcher Form die Beklagte den Rückzahlungsanspruch hat durchsetzen wollen. An der rechtlichen Natur des angefochtenen Bescheides als eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG ändert deshalb nichts, daß die Beklagte - anstatt von dem Kläger (von vornherein) die Rückzahlung der Überzahlung in einer Summe zu fordern -, den Rückzahlungsanspruch im Wege der Aufrechnung mit Teilbeträgen der laufenden Rente geltend gemacht hat; insoweit handelt es sich lediglich um die Art und Weise der Erfüllung des Rückzahlungsanspruchs, dessen Bestehen aber davon abhängt, daß die Beklagte eine Rückzahlungspflicht des Klägers überhaupt zu Recht festgestellt hat. Die Beklagte hat mit der Verfügung, daß der Kläger bis zur Tilgung der "Überzahlung" nur einen geringeren Zahlbetrag der Rente erhalten werde, an den Rentenleistungen, auf die der Kläger Anspruch hat, nichts geändert; diese Leistungen stehen dem Kläger nach wie vor zu; sie werden von der Beklagten lediglich teilweise zur Befriedigung des Rückforderungsanspruchs in Anspruch genommen.
Das LSG ist somit zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß auf die Klage auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides kein Sachurteil ergehen dürfe, solange ein Vorverfahren nicht stattgefunden habe. Das Vorverfahren ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil die beklagte Verwaltung im Prozeß an der angefochtenen Entscheidung festgehalten hat (vgl. auch Urteil des BSG vom 18. Februar 1964, DVBl 1964, 489 = SozR Nr. 11 zu § 79 SGG). Das Vorverfahren kann zwar noch während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden; der Widerspruch ist in der Klage enthalten (vgl. Urteil des BSG vom 18. Februar 1964 aaO). Im vorliegenden Fall hat sich jedoch das LSG nicht veranlaßt sehen müssen, den Beteiligten vor der Entscheidung noch Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen, um den Widerspruchsbescheid in die Klage "mit einbeziehen zu können", weil sich die Beklagte ausdrücklich geweigert hat, einen Widerspruchsbescheid "herbeizuführen" (vgl. auch Urt. des BSG vom 18. Februar 1960 aaO). Unter diesen Umständen hat das LSG zu Recht dem Hilfsantrag des Klägers entsprochen und die Beklagte durch Urteil verpflichtet, dem Kläger einen Widerspruchsbescheid zu erteilen; die Voraussetzungen hierfür (§§ 88 Abs. 2, 131 Abs. 3 SGG) hat das LSG geprüft und zutreffend bejaht.
Das LSG hat sonach die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt. Die Revision der Beklagten ist unbegründet; sie ist zurückzuweisen. Da das LSG über die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 9. Mai 1960 noch nicht entschieden hat, wird es insoweit den Rechtsstreit fortzuführen haben, wenn die Beklagte dem Widerspruch nicht stattgibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen