Wann führen 150 km/h auf der Autobahn zur Mithaftung?
Unfallursache war ein völlig unmotivierter Spurwechsel auf linke Spur
Kurz bevor er den auf der rechten Fahrspur mit seinem Dacia fahrenden Beklagten überholt hatte, zog dieser unvermittelt auf die linke Spur, ohne den Fahrspurwechsel mit dem Blinker anzuzeigen. Der Seat-Fahrer konnte nicht mehr rechtzeitig genug abbremsen und fuhr auf den Dacia auf. Sachschaden am Seat: 7.640 Euro.
Gericht sieht keine Mitschuld des flott Überholenden
Vor Gericht musste geklärt werden, ob es eine Mithaftung des Überholenden gab, weil dieser die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hatte, was die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs deutlich erhöht habe. Das Landgericht hatte dies verneint.
Auch das OLG Hamm folgte nicht der Auffassung des Beklagten, der eine Mitschuld des Seat-Fahrers von 25 % sah.
Geschwindigkeit war mit Straßen- und Sichtverhältnissen vereinbar
Das OLG begründete seine Entscheidung so:
- den Beklagten treffe ein erhebliches Verschulden
- ein schuldhafter, mitverursachender Verkehrsverstoß des Überholenden sei nicht bewiesen
- der Kläger habe auf der freien Autobahn nicht mit einem plötzlichen Spurwechsel des Beklagten rechnen müssen
- die Geschwindigkeit von 150 km/h sei mit den Straßen- und Sichtverhältnissen vereinbar gewesen
Erhöhte Betriebsgefahr wegen hoher Geschwindigkeit fällt nicht ins Gewicht
Zum Thema der erhöhten Betriebsgefahr führte das OLG aus: Diese falle aufgrund des erheblichen Verschuldens des Beklagten im Abwägungsverhältnis nicht ins Gewicht.
- Aus der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 20 km/h habe sich keine Gefahrensituation für den vorausfahrenden Beklagten ergeben.
- Das Gericht sah auch nicht, dass die mit einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit für einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer häufig verbundene Gefahr als verwirklicht an, dass dieser die Annährungsgeschwindigkeit des von hinten kommenden Fahrzeugs unterschätzt habe.
Unachtsamkeit des Spurwechslers für Unfall entscheidend
Schließlich habe der Beklagte aus Unachtsamkeit, ohne überhaupt auf den rückwärtigen Verkehr zu achten, den Fahrstreifen ungewollt gewechselt. Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit habe für den Beklagten nicht gefahrenerhöhend gewirkt.
Der Kläger hingegen habe auf der freien Autobahn darauf vertrauen dürfen, dass der Beklagte den rechten Fahrtstreifen nicht grundlos verlasse.
(OLG Hamm, Beschlüsse v. 21.12.2017 und 8.2.2018, 7 U 39/17)
Anmerkung: Entscheidend ist, ob sich durch die Überschreitung der empfohlenen Geschwindigkeit die Gefahr realisiert, die die Empfehlung einer Richtgeschwindigkeit gerade vermeiden soll.
Hintergrund:
Es ist seit vielen Jahren gängige Rechtsprechung, dass sich nur derjenige wie ein "Idealfahrer" verhält, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nicht überschreitet. Kommt es zu einem Unfall bei gleichzeitigem Überschreitung dieser Geschwindigkeit, kann nur dann einer Mithaftung entgangen werden, wenn der Nachweis gelingt, dass der Unfall auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h geschehen oder es dann zumindest nicht zu weniger schweren Folgen gekommen wäre. Dies kann nur durch die Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens geklärt werden.
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