Großbritannien kann laut EuGH einseitig vom Brexit zurücktreten

Der EuGH hat auf Klage schottischer, britischer und EU-Abgeordneter entschieden, dass  Großbritannien noch bis zum 29.3.2019 einseitig und ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder vom angekündigten Brexit zurücktreten kann. Die britische Regierung will zwar bei den Austrittsplänen bleiben. Sollte sie dafür im Parlament keine Mehrheit bekommen, wäre hier eine Option offen.

Am 11.12.2018 sollte es im britischen Unterhaus zum Schwur für die Ministerpräsidentin Theresa May kommen. Dann sollte darüber abgestimmt werden, ob das britische Parlament den von der Ministerpräsidentin ausgehandelten Modalitäten zum Austritt aus der EU zustimmt oder nicht. Nun wird dieser Termin voraussichtlich verschoben:

  • Verweigert das Parlament die Zustimmung - und dafür spricht zur Zeit einiges - sind verschiedene Szenarien denkbar.
  • Eines davon - so hoffen jedenfalls die Brexit-Gegner - wäre der Rücktritt vom Austritt.
  • Genau das hat der EuGH nun für zulässig erklärt.

Die könnte für britische Abgeordnete bei der geplanten Abstimmung ein zusätzliches Argument sein, gegen die Vereinbarung zu stimmen.

EuGH entschied über Bedingungen eines möglichen Rücktritts vom Brexit

Der EuGH entschied einen Tag vor der Parlamentsabstimmung und folgte, wie recht oft, der Meinung des EU-Gerneralanwalts wonach ein Staat, der seine Absicht zum Austritt erklärt, die volle Kontrolle behalte, diese Absicht zu ändern:

  • Wenn ein Staat seinen EU-Austritt einseitig erklären kann, dann müsse er diese Erklärung logischerweise auch einseitig wieder zurücknehmen können.
  • Ein Rücktritt von der der Austrittsankündigung sei daher in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten in Großbritannien möglich.
  • Das bedeutet, dass die Erfordernis eines demokratischen Prozesses erfüllt werden müssen. Nach Ansicht von laut Prof. Kenneth Armstrong reicht dafür ein Parlamentsvotum, ein neues Referendum sei nicht notwendig.
  • Die „eindeutige und bedingungslose" Entscheidung zum Verbleib in der EU" sei dem Rat schriftlich mitzuteilen.

Dies hätte dann die Konsequenz, dass das Land zu den derzeitigen Bedingungen in der EU bleiben könnte.

EuGH betrat juristisches Neuland

Zwar stand bisher schon im Raum, dass EU-Länder aufgrund Überschuldung aus der EU austreten müssen. Ein freiwillig erklärter Austritt war dagegen ein Novum. Das waren die im Raum stehenden Entscheidungsalternativen für die Möglichkeiten eines Rücktritts vom Austritt

  • der EuGH hätte die Möglichkeit eines Rücktritts ganz ausschließen können,
  • er hätte einen Exit vom Brexit nur mit Zustimmung der übrigen Mitgliedsländer zulassen können oder
  • der EuGH konnte wie letztlich geschehen, Großbritannien ein einseitiges Recht zur Rücknahme der Austrittserklärung einräumen.

Nur die letzte Option war im Sinne der Brexit-Gegner, denn die Option einer Rücknahme des Austritts mit Zustimmung der übrigen EU Mitgliedsländer wäre schon aus Zeitgründen bis zum 29.3.2019 kaum zu machen gewesen.

Rechtsgrundlage war der EU-Vertrag

Die entscheidenden Rechtsgrundlagen die völker- und EU-rechtlich komplexe Frage finden sich in Art. 50 des EU-Vertrages vom 7.2.1992.

  • Gemäß Art. 50 Abs. 1 des EU-Vertrages kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
  • Gemäß Art. 50 Abs. 2 hat ein Mitgliedstaat seine Absicht, aus der EU auszutreten, dem Europäischen Rat förmlich mitzuteilen. (Dies hat Großbritannien am 29. März 2017 getan.)
  • Im Anschluss daran kann der Austrittsstaat gemäß Art 50 Abs. 2 mit der Union ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln.

Die von der EU geschlossenen Verträge finden auf den betroffenen Staat gemäß Art. 50 Abs. 3 zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht keine Anwendung mehr (= endgültiger Austritt), es sei denn in einem Austrittsabkommen wird einvernehmlich etwas anderes geregelt.

Der EU-Vertrag regelt nicht den Rücktritt vom Austritt

Eine eindeutige Regelung darüber, ob und unter welchen Bedingungen eine Austrittserklärung zurückgenommen werden kann, enthält der EU Vertrag nicht. Genau diese Frage einer möglichen einseitigen Rücknahme der Austrittserklärung könnte aber für die derzeit laufenden Verhandlungen im englischen Parlament eine wichtige Rolle spielen.

Abgeordnete erhoben Feststellungsklage vor schottischem Gericht

Vor diesem Hintergrund haben einige Abgeordnete des schottischen, des britischen und des EU-Parlaments am 21.9.2018 beim zuständigen Zivilgericht Schottlands dem „Court of Session, Inner House“ einen Feststellungsantrag eingereicht.

  • Der Antrag ist formal gegen das „Brexit Secretary of State“ gerichtet
  • und zielt auf Klärung der Frage, ob eine einseitige Rücknahme des Brexit rechtlich möglich ist.

Erstinstanzlich hat das schottische Gericht den Antrag zurückgewiesen. Das Feststellungsbegehren ziele auf die Klärung einer hypothetischen Rechtsfrage und sei ohne praktische Relevanz, da keine Anzeichen für den realen Eintritt einer solchen Situation bestünden. Daher sei der Feststellungsantrag unzulässig.

Vorlagebeschluss erst in der Rechtsmittelinstanz

Der „Court of Session, Outer House“ (Rechtsmittelinstanz) folgte dieser Argumentation nicht. Bei der Klage gehe es nicht um eine rein hypothetische Rechtsfrage, vielmehr sei je nach Abstimmung im englischen Unterhaus die Möglichkeit eines Austritts aus dem Brexit nicht völlig auszuschließen und damit nicht hypothetisch, sondern real. Da es um die Auslegung europäischen Rechts und hier insbesondere von Art. 50 des EU-Vertrages geht, hat das schottische Gericht die Rechtsfrage eines einseitigen Rücktritts vom Austritt dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

EU-Vertrag ließ diverse Auslegungsmöglichkeiten zu

Der Generalanwalt beim EuGH hatte sich in seinem Gutachten mit den verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung von Art. 50 des EU-Vertrages auseinandergesetzt:

  • Vom Wortlaut her ließe Art. 50 die Auslegung zu, dass eine Rücknahme des Brexit grundsätzlich nicht zulässig ist, weil die Vorschrift diese Option nicht ausdrücklich vorsieht.
  • Art. 50 lasse allerdings ausdrücklich eine Verlängerung der Zweijahresfrist für die Austrittsverhandlungen mit Zustimmung der übrigen Mitgliedsländer zu. Hierauf stützen einige Juristen die Schlussfolgerung, dass dann auch die Rücknahme der Austrittserklärung mit Zustimmung der übrigen Mitgliedsländer zulässig sei. 

Generalanwalt plädierte für einseitige Rücknahmeoption

Der Generalanwalt hatte sich für die dritte Option, nämlich das Recht auf einseitige Rücknahme ohne Zustimmung der übrigen Mitgliedsländer, entschieden.

  • Nach dem Gutachten des Generalanwalts muss ein Staat, der seine Absicht zum Austritt erklärt, die volle Kontrolle behalten, diese Absicht zu ändern. Wenn eine Absicht einseitig erklärt werden könne, müsse sie auch einseitig wieder zurückgenommen werden können.
  • Der Generalanwalt stützte seine Schlussfolgerung auch auf das „Wiener Abkommen über das Recht der Verträge“ vom 23.5.1969. Auch danach könne die Notifikation des Rücktritts von einem völkerrechtlichen Vertrag jederzeit zurückgenommen werden.
  • Es sei im übrigen auch unlogisch, dass ein Staat, der nicht mehr austreten wolle, gezwungen werde, aus der EU auszutreten, um dann um über einen erneuten Eintritt zu verhandeln.

Wie müsste der Rücktritt vom Austritt gestaltet werden

Der Generalanwalt plädiert allerdings für gewisse Anforderungen an einen möglichen Rücktritt vom Austritt.

  • So müsse der austretende Staat die Rücktrittsabsicht ebenso wie den Austritt den übrigen EU-Ländern förmlich mitteilen.
  • Außerdem müsse nach Art. 50 des EU-Vertrages Großbritannien im Falle eines Exit vom Brexit seine Verfassungsvorgaben einhalten, d.h. das Parlament müsse dem Rücktritt vom Austritt ebenso zustimmen, wie es zuvor dem Austritt selbst zustimmen musste.
  • Daneben legte der Generalanwalt besonderen Wert darauf, dass die Erklärung sowohl des Rücktritts als auch des Austritts nicht missbräuchlich erfolgen dürften. Er sah insoweit bei der Möglichkeit der jederzeitigen Rücknahme einer Austrittserklärung die Gefahr von möglichen taktischen Austrittserklärungen, die einzelne Mitgliedsländer instrumentalisieren könnten, um ihre spezifischen Ziele innerhalb der EU durchzudrücken. 

EuGH folgte dem Vorschlag des Generalanwalts

Im Ergebnis folgte der EuGH den Vorschlag von Generalanwalt am EuGH Manuel Compos Sanchez-Bordona (EuGH, Schlussantrag des Generalanwalts vom 4.12.2018, C-621/18). und stellte in seinem Urteil fest, dass Art. 50 des EU-Vertrages die einseitige Rücknahme einer Austrittserklärung zulässt.

(EuGH, Urteil v. 10.12.2018 Rs. C-621/18)

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