Sorgerechtsentzug nur bei Gefährdung des Kindeswohls

In einer grundlegenden Entscheidung hat das BVerfG die Kriterien für den Entzug des Sorgerechts gegenüber den leiblichen Eltern konkretisiert. Ohne eingehende Feststellungen des Gerichts zur Gefährdung des Kindeswohls ist ein Entzug des Sorgerechts nicht zulässig.

Ein aus Ghana stammender Vater, der seit Anfang 2012 in Deutschland lebt, wehrte sich gegen den Entzug des Sorgerechts für seine im Februar 2013 geborene Tochter. Von der Kindesmutter hatte er sich während der Schwangerschaft getrennt. Wegen schwerer psychischer Erkrankungen der Mutter lebt keines ihrer vier anderen Kinder bei ihr. Auf einstweilige Anordnung des AG wurde die Tochter kurz nach ihrer Geburt bei einer Pflegefamilie untergebracht. Dort finden bis heute begleitete Umgangskontakte des Kindes mit dem Vater statt. Mit Beschluss vom 17.9.2013 hat das AG beiden Eltern die elterliche Sorge entzogen. Die Beschwerde des Kindesvaters wies das OLG zurück. Hiergegen wandte sich der Kindesvater mit der Verfassungsbeschwerde.

Nicht das Gericht, sondern die Sachverständige hat den Fall entschieden

Das BVerfG ließ an den Entscheidungen der Instanzgerichte kein gutes Haar. Nach Ansicht der Verfassungsrichter hatten die Instanzgerichte es sich in einer die Verfassung verletzender Weise buchstäblich viel zu leicht gemacht. Erstinstanzlich war ein Sachverständigengutachten eingeholt worden. Die Gutachterin hatte die Erziehungsfähigkeit der Eltern verneint. Die Eltern seien nicht in der Lage, dem Kind ein sinnvolles, an Leistung und Arbeit ausgerichtetes Leben vorzuleben und das Kind zu Leistungen anzuhalten, aufgrund derer das Kind ein Selbstwertgefühl aufbauen könne. Auch seien die Eltern nicht in der Lage, dem Kind ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe“ zu vermitteln. Die Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen hatten die Vordergerichte nicht in Zweifel gezogen und darauf ihre Entscheidungen gegründet.

Die rechtlich maßgeblichen Gesichtspunkte übersehen

Das höchste deutsche Gericht kritisierte diese Vorgehensweise der Vordergerichte scharf. Diese hätten nicht kritiklos die Feststellungen der Sachverständigen übernehmen dürfen. Die Instanzgerichte hätten nicht einmal bemerkt, dass die Sachverständige die entscheidenden, für die Entziehung des Kindeswohls maßgeblichen Fragen weder gestellt geschweige denn beantwortet habe. Die Verfassungsrichter stellten klar, dass Art. 6 Abs. 3 GG den Entzug der elterlichen Sorge nur dann gestattet, wenn auf andere Weise eine schwere Gefährdung des Kindeswohls nicht beseitigt werden könne.

Gerichte müssen eigenständige Feststellungen treffen

Die Verfassungsrichter stellten klare Kriterien für die Entziehung der elterlichen Sorge auf. Diese setzt voraus, dass

  • die Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe komplett versagen oder das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht,
  • das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht hat, dass das Kind beim Verbleib bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.
  • Der körperliche oder seelische Schaden des Kindes muss bereits eingetreten sein oder aber eine erhebliche Schädigung mit hoher Sicherheit vorausgesehen werden.
  • Die dazu erforderlichen Feststellungen muss das entscheidende Gericht zwingend selbst treffen und darf sich nicht kritiklos auf die Feststellungen eines Sachverständigen verlassen.
  • Hat ein Sachverständiger die sachlichen Feststellungen getroffen, so hat das Gericht diese eigenständig einer rechtlichen und tatsächlichen Würdigung zu unterziehen, d.h. es muss die Feststellungen des Sachverständigen auf ihre Stichhaltigkeit und Plausibilität eingehend prüfen.

Die Eltern haben die Erziehungshoheit

Nach dem Verfassungsgericht hatte die Sachverständige vorliegend nicht die verfassungsrechtlich gebotenen Fragen zur nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls gestellt, vielmehr habe die Sachverständige hinsichtlich der Erziehungsfähigkeit der Eltern ein eigenes, westlich geprägtes Leitbild aufgestellt und die Fähigkeit der Eltern verneint, dieses Leitbild zu erfüllen. Dabei hätten die Vordergerichte verkannt, dass die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv unter Beweis stellen müssen. Entscheidend sei allein, dass ein gravierendes, das Kind schädigende Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststehe.

Die Gefährdung des Kindeswohls ist der Maßstab

Die Vordergerichte haben nach Auffassung des BVerfG verkannt, dass Art. 6 GG die primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern schützt. Dies bedeute auch, dass die Eltern im Rahmen der verfassungsmäßig vorgegebenen Ordnung eigenständige Wertvorstellungen bei der Erziehung ihres Kindes zugrundelegen dürften. Keinesfalls dürfe der Staat ein von ihm für sinnvoll gehaltenes Lebensmodell an die Stelle des von den Eltern für richtig gehaltenen Erziehungsmodells setzen. Der Staat habe sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Unterbringung bei den Eltern das Kindeswohl schwerwiegend gefährde oder nicht. Dieser Aufgabe seien die Vordergerichte nicht gerecht geworden. Sie hätten sich vielmehr an einer Gutachterin orientiert, die erkennbar nicht die gebotene Unvoreingenommenheit gegenüber anderen Kulturen gezeigt habe. So habe diese in ihrem Gutachten ausgeführt, die „afrikanische Erziehungsmethoden“ entsprächen nicht den europäischen Vorstellungen vom Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung. Es sei daher eine „Nachschulung“ des Kindesvaters erforderlich, bevor dieser sein Kind erziehen könne.

Die Gefährdungsmomente des Kindeswohl sind detailliert zu benennen

Die Verfassungsrichter wiesen ausdrücklich darauf hin, dass die mangelnde Qualität der Instanzentscheidungen nicht allein darauf fuße, dass die Qualität des Sachverständigengutachtens mangelhaft sei. Auch ein mangelhaftes Sachverständigengutachten könne Grundlage einer zutreffenden gerichtlichen Entscheidung sein, wenn das Gericht sich mit den fehlerhaften Ansätzen des Sachverständigengutachtens auseinandersetze und eingehend begründe, weshalb das Gericht dennoch zu dem gleichen Ergebnis wie der Sachverständige kommt. Eine Auseinandersetzung mit den Defiziten des Sachverständigengutachtens habe hier aber in keiner Weise stattgefunden. Auch hätten die Instanzgerichte die dem Kind drohenden Schäden nicht konkret benannt. Der Entzug des Sorgerechts setze aber voraus, dass

  • die Erziehungsdefizite,
  • die ungünstigen Entwicklungsbedingungen,
  • die Art,
  • die Schwere und
  • die Eintrittswahrscheinlichkeit

für die erhebliche Kindeswohlgefährdung konkret benannt würden. Alles andere liege neben den Geboten der Verfassung.

Das OLG muss nachbessern

Da die Feststellungen der Instanzgerichte in tatsächlicher Hinsicht unzureichend waren, hat das BVerfG das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

(BVerfG, Beschluss v. 19.11.2014, 1 BvR 1178/14).

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Schlagworte zum Thema:  Sorgerecht, Kindeswohl