Diese Aussage findet sich häufig in gerichtlichen Entscheidungen. Bei einem Abgleich dieser Aussage mit der Wirklichkeit stellt man jedoch fest: Der Blick reicht häufig nur bis zum Ende der mündlichen Hauptverhandlung erster Instanz.[4] Alles, was danach kommt, ähnelt dem Blick des Vogels Strauß. Dieser steckt den Kopf in den Sand; dadurch ist der Blick getrübt, wodurch er nicht besonders viel von seiner Umwelt wahrnimmt. Warum ist das so?

Nach meiner Einschätzung erfolgte eine Traumatisierung durch die Entscheidung des RG vom 4.10.1934:[5] Das RG hatte damals folgende Prognose gewagt:

Zitat

"Wegen der erfolgreichen Anstrengungen der seit kurzem im Amt befindlichen Reichsregierung wird der Geschädigte im Jahr 1943 trotz seiner Verletzung nicht ohne Arbeit sein."

In seiner treffsicheren Analyse bemerkte Steffen[6] mit der ihm eigenen Ironie, dass es ein Treppenwitz der Geschichte sei, dass die national verengte Pupille der Richter fast ins Schwarze getroffen hätte, nur, dass auf den Mann nicht die Lohntüte wartete, sondern das Soldbuch.

Das Postulat "soweit wie möglich die künftige Entwicklung schon im Urteil zu berücksichtigen, soweit Anhaltspunkte einigermaßen greifbar sind," verkommt in der Alltagspraxis zum bloßen Lippenbekenntnis; es ist jedenfalls nicht gelebte Wirklichkeit. Einzuräumen ist, dass das Deuten von Kaffeesud nicht zur Kernkompetenz von Zivilgerichten zählt. Deutsche Gerichte sind weder das Orakel von Delphi noch Auguren, die den Götterwillen nach dem Geschrei der Vögel ermitteln; und auch keine Sterndeuter.

Erlaubt sei aber die Arbeitshypothese: Das RG hat sich zu sehr aus dem Fenster gelehnt. Als Reaktion wurde aber in der Folge das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Heute werden Entscheidungen oft bei geschlossenem Fenster und zugezogenen Vorhängen getroffen. Der Tadel an die Gerichte ist freilich insoweit zu relativieren, als diese lediglich über die von anwaltlich vertretenen Parteien erhobenen Begehren entscheiden; und insoweit geht es allein um Stattgebung oder Abweisung, im Regelfall aber nicht um einen Zuspruch über das Begehren hinaus. Der Schwarze Peter liegt daher eigentlich bei den (Opfer-)Anwälten.

[4] Ch. Huber, in: Nomos-Komm3, §§ 842, 843 Rn 77.
[5] RG v. 4.10.1934 – VI 231/34, RGZ 145, 196.
[6] Ersatz von Fortkommensnachteilen und Erwerbsschäden aus Unfällen vor Eintritt in das Erwerbsleben, DAR 1984, 1, 2.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge