Zur Erwerbsprognose in Deutschland und in der Schweiz mag folgende Metapher passend sein: Wenn man bei einer Bergwanderung auf halber Höhe steht, dann dominiert in Deutschland der Blick in die Tiefe. Es befällt den Wanderer ein Schwindelgefühl; es überkommt ihn die Furcht abzustürzen. In der Schweiz schweift an derselben Stelle der Blick auf das Gipfelkreuz im gleißenden Sonnenlicht; es dominiert die Vorfreude auf den bevorstehenden Aufstieg. Aus deutscher Sicht ist die Einschätzung denkbar: Älpler sind mit dem Weg nach oben in den Bergen eben besser vertraut; das ist ganz normal. Aber die Metapher lässt sich auf den Erwerbsschaden übertragen:

Bei Erwerbsschadensprognosen sind in deutschen höchstrichterlichen Entscheidungen folgende Hinweise dominant: Es ist fraglich, welches Einkommen in der Zukunft erzielt worden wäre. Nicht gesichert ist, dass es wirklich so aufwärts geht wie bisher oder das Niveau auch nur gehalten werden kann.[42] Das Tatgericht kann die Risiken des Arbeitsmarktes durch entsprechende Abschläge berücksichtigen. Es dominiert die Skepsis.[43] Die Anwälte der Ersatzpflichtigen haben mustergültig vorgetragen. Es erfolgt eine Übernahme von deren Position durch das Gericht.

In Entscheidungen des BG in der Schweiz finden sich häufig solche Passagen: Plausibel ist, dass eine erwerbstätige Person jedes Jahr zumindest eine Inflationsabgeltung erhält. Es gibt keine Gründe, dass nicht auch Arbeitnehmer am Wirtschaftswachstum teilhaben; und bei den allermeisten Menschen ist von einem beruflichen Aufstieg in ihrer Erwerbsbiographie auszugehen, jedenfalls bis zum 52. Lebensjahr, ehe es dann zu einer Abflachung ihres Einkommens bis zum Renteneintritt kommt,[44] bei dem dann eine Zäsur im Sinn einer Einkommensverminderung passiert.

Diese unterschiedliche Sichtweise überrascht, besteht doch zwischen der Schweiz und Deutschland eine Kulturgemeinschaft; da und dort sind ähnlich ambitionierte Menschen in einem vergleichbaren Wirtschaftssystem tätig. Womöglich kommen unterschiedliche Fälle zum Höchstgericht bzw. werden von der Literatur besprochen. Das ist eher unwahrscheinlich. Eine andere Erklärungshypothese könnte sein, dass die tüchtigeren Anwälte in der Schweiz auf Seite der Geschädigten tätig sind, in Deutschland aber auf Seite der Ersatzpflichtigen. Wenn man als Professor Ausschau hält, wer die einschlägige Literatur und (Fachanwalts-)Ausbildungsszene für Verkehrsanwälte in Deutschland dominiert, dann sind es in Deutschland die – kompetenten – Anwälte der Defensivkanzleien, in der Schweiz jedoch die Anwälte der Geschädigten sowie die Sozialversicherungsträger.

In vielen Fällen hat die optimistische schweizerische Sichtweise ein höheres Maß an Plausibilität als die von Ängstlichkeit geprägte Sichtweise in Deutschland. Womöglich spielt für die Einschätzung in der Schweiz auch eine Rolle, dass dort mehr statistische Untersuchungen vorhanden sind, die diese Beobachtungen empirisch belegen,[45] so dass sie für das Haftpflichtrecht fruchtbar gemacht werden können. Wenn es daran in Deutschland fehlen sollte, möge man auch dazu den Ausspruch von Angela Merkel beherzigen:[46] "Wir schaffen das." Der Österreicher wünscht dazu alles Gute.

[42] Prototypisch OLG München BeckRS 2010, 10686 = jurisPR-VerkR 2010/13 mit naturgemäß zustimmender Anm. 3 (Lang – Deutsche Allianz): 25 %-iger Abschlag bei einem 34-jährigen Architekten bei einem Dauerschaden mit dem Hinweis, dass die Baukonjunktur rückläufig sei. Nicht beachtet wurde, dass die Konjunktur ein Phänomen ist, das sich stets in einem Zyklus (Ab und Auf!) bewegt, und sich ein 34-jähriger Architekt typischerweise in diesem Alter nicht im Zenit seiner Einkommensmöglichkeiten befindet. Kritisch Ch. Huber, in: Nomos-Komm3, §§ 842, 843 Rn 145.
[43] BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 186/08, NJW 2011, 1148 (Schiemann) = SVR 2011, 64 (Luckey) mit Besprechungsaufsatz Ch. Huber, Zwei neuere BGH-Entscheidungen zur Erwerbsschadensprognose – der "Schätzungsbonus" des Verletzten und dessen (dürftige) Umsetzung – Besprechung der Urteile des BGH vom 5.10.2010 – VI ZR 186/08, NJW 2011, 1148 (Schiemann) sowie v. 9.11.2010 – VI ZR 300/08, NJW 2011, 1145 (Schiemann), HAVE 2011, 253 ff.
[44] Das ist offenbar ein markantes Jahr, enden doch mit diesem auch die Gehaltssprünge bei Beamten in NRW.
[45] Für den Erwerbsschaden etwa Dorn/Geiser/Graf/Sousa-Poza, Die Berechnung des Erwerbsschadens (2007). Für den Haushaltsführungsschaden sei auf die periodisch überarbeitete SAKE (Schweizer Arbeitskräfteerhebung) verwiesen.
[46] Ausspruch zur Flüchtlingskrise, erstmals am 31.8.2015.

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