Wissen Sie was es mit dem Theorem von Bayes auf sich hat? Nein? Dann wird es aber Zeit! Ich habe mich zum Beispiel gefragt, warum ich das nicht bereits im Studium, spätestens aber im Referendariat gelernt habe. Ich habe mich gefragt, warum in all den Jahren der Aus-, Weiter- und Fortbildung nicht immer wieder die Diskussion aufgebrandet ist, wie Gerichte Beweise würdigen, wann die Überzeugung für oder gegen eine Verurteilung gewonnen wird, wie diese beeinflussbar und – sicherlich ebenso wichtig – wie die Überzeugungsbildung überprüft werden kann.

Ich gebe zu, dass ich bei den mathematischen Ausführungen von Geipel bei der Erklärung des Theorems (Kap. 19 Rn 54 ff.) tief durchatmen musste, weil ich meine Grenzen in Mathematik sehr wohl kenne, aber die "Übersetzung" (Kap. 19 Rn 68) hat mich überzeugt, dass die Diskussion aufgegriffen werden muss: Die Wahrscheinlichkeit ist =

 
a-priori-Wahrscheinlichkeit × Wahrscheinlichkeit, dass das Indiz bei der Haupttatsache vorliegt
(a-priori-Wahrscheinlichkeit, dass die Haupttatsache vorliegt × Wahrscheinlichekit, dass das Indiz bei der Haupttatsache vorliegt) + (a-priori-Wahrscheinlichkeit, dass die Haupttatsache nicht vorliegt × Wahrscheinlichkeit, dass das Indiz bei der Nichthaupttatsache vorliegt)

Es ist notwendig, sich mit den wesentlichen Grundsätzen der Beweiswürdigung auseinanderzusetzen, wenn man an der Entstehung gerechter Entscheidungen interessiert ist. Es ist wichtig zu wissen, wie der Gegner "tickt" und seine Entscheidungen fällt, befindet man sich in Vergleichsverhandlungen. Noch wichtiger dürfte sein, zu erkennen, wie eigene "Wahrheiten" zustande gekommen sind und wie der Blick sich in eigener Sache verstellen kann. Deshalb und weil es wirklich etwas dazuzulernen gibt, ist für jeden interessierten Juristen das Werk von Geipel ein echter Gewinn.

Geipel hat in der 2. Auflage erhebliche Fußnoten eingearbeitet, wichtiger noch aber ist die Einarbeitung der Erkenntnisse der Nobelpreisträger Kahneman und Tversky, deren Werk im Hardcover den deutschen Buchmarkt erreicht. Dies in die juristische Umgebung umzusetzen, ist Geipel gelungen: Er streitet in Teil I um die Notwendigkeit der Objektivierung der Beweiswürdigung und gibt Vorschläge zu ihrer Durchführung, um den Rechtsstaat zu bewahren. Sein unschlagbares Argument lautet hierfür, dass Beweiswürdigung selbstverständlich logischen Grundsätzen unterworfen sein muss, dann aber konsequenterweise so transparent sein muss, dass sie tatsächlich und nicht nur gefühlt überprüft werden kann.

In Teil II veranschaulicht er die Widerlegung des Urteils durch logische Würdigung von Indizien, die häufigsten Fehler in der Beweiswürdigung und die wichtigsten Aussagekriterien. In Teil III widmet er sich (gemeinsam mit Nill) der Zeugenaussage in Analyse und Würdigung. In Teil IV nimmt er das zivilprozessuale Beweisrecht und beweisrechtliche Sonderkonstellationen ins Visier. Dabei wird die Zeugeneinvernahme aus taktischer Sicht dargestellt und räumt bspw. fundiert mit der Fehlerträchtigkeit von Zeugen-Schätzungen auf, indem er die Verteidiger auffordert, hiergegen zu remonstrieren (Kap. 31 Rn 71 m.w.N.). Auf den Lügner mit unterschiedlicher Qualifizierung (gelegentlicher, häufiger, gewohnheitsmäßiger oder professioneller) weist er kurzweilig hin und widmet sich dann der am meisten verbreiteten Lüge – dem "Nicht-mehr-wissen-Syndrom" (Kap. 31 Rn 91 ff.). Die Kompaktheit der Ausführungen macht das Lesen kurzweilig und Dazulernen bzw. Wiederholen leicht.

Anschaulich ist das Kapitel 36 zu den Entscheidungsmechanismen in Vergleichsverhandlungen durch Übersichten (Kap. 36 Rn 71) oder die Aufzählung, die als Textauffälligkeiten auf mögliche Fehler oder Schwächen hinweisen können und hier zur Veranschaulichung ebenfalls exemplarisch aufgezählt werden sollen (Kap. 36, Rn 75 f.): "wahrscheinlich", "vielleicht", "möglicherweise", "grundsätzlich", "es könnte sein, dass", "ich bin nicht sicher, dass" usw.

Wenn Sie sich hierbei selbst ertappen, sollte die Neugier Sie zum Kauf des Buches veranlassen, denn die Rezension schafft es natürlich nicht, alle klugen Teile gerafft darzustellen. Nicht nur ist der umfassende Literaturhinweisapparat eine Fundgrube zur weiteren Recherche, wenn der Kampf um Logik und Gerechtigkeit ergriffen werden soll. Auch die Praxistipps für Verteidiger oder Vertreter stellen eine auch schon optische Hilfe dar.

Am Fotobeispiel eines anthropologischen Vergleichsgutachtens (Kap. 34 Rn 11 ff.) weist der Autor auf Fehlerquellen hin und kritisiert dezidiert auch obergerichtliche Rechtsprechung. Im Praxistipp (Kap. 34 Rn 11) schlägt er vor, dass durch "unfaire Gegenüberstellungen" oder suggestive Wirkungen auf Zeugen die Verteidigung gehalten ist, Beweisanträge zu stellen oder eigene Experimente durchzuführen. Dass das in der Praxis gar nicht so einfach ist, weiß jeder Strafverteidiger, allerdings kann die Rechtsprechung des BGH (zuletzt BGH v. 19.3.2013 – 5 StR 79/13) zur Wahllichtbildvorlage (maßgeblich hierzu die Leitsatzentscheidung ...

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