Wird der Eintritt einer HWS-Verletzung nach einem Unfall behauptet, muss der Anspruchssteller und angeblich Geschädigte mit dem Beweismaß des § 286 ZPO sowohl das Vorliegen einer HWS-Verletzung wie auch den rechtlichen Zusammenhang der Verletzung mit dem Unfallereignis nachweisen. Liegt eine Verletzung mit dem behaupteten Schweregrad I nach Erdmann "Schleuderverletzungen", 1973, S. 72 ff. vor (leichte Fälle mit Nackenkopfschmerz und geringer Bewegungseinschränkung der HWS, kein röntgenologisch oder neurologisch abnormer Befund), stößt er bei Bestreiten des Vorliegens einer HWS-Verletzung auf Beweisschwierigkeiten (vgl. auch Dannert, NZV 1999, 453, 466; Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 6. Aufl., Rn 680–685).

1. Als erste Hürde wurde für den Anspruchssteller die fehlende Überschreitung der sog. Harmlosigkeitsgrenze aufgebaut. Wurde bei der Kollision zweier Fahrzeuge dem Fahrzeug, in dem der angeblich Geschädigte saß, eine Differenzgeschwindigkeit von weniger als 15 km/h (teilweise wurden auch geringere Werte mitgeteilt) verschafft, sollte die Herbeiführung einer HWS-Verletzung ausgeschlossen sein (vgl. OLG Hamm VersR 1999, 990 = DAR 1998, 392; vgl. auch Jaeger/Luckey, a.a.O. Rn 688 f.). Diese Begründungsmöglichkeit für die Ablehnung einer HWS-Verletzung ohne weitergehende Beweisaufnahme ist nach der Entscheidung des BGH v. 28.1.2003 (zfs 2003, 287) nicht mehr haltbar. Der BGH hat bei aller Anerkennung der Bedeutung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung der Harmlosigkeitsgrenze die entscheidende Weichenstellung für die Beurteilung des Vorliegens oder Nichtvorliegens einer HWS-Verletzung versagt und bemängelt, dass vielmehr eine Gesamtbetrachtung des Ereignisses anzustellen sei. Im Übrigen stellt die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung keine zutreffende Wiedergabe der Belastung des angeblich Geschädigten dar. Sie umschreibt die Belastung, die die Fahrgastzelle erfährt, in der sich der Geschädigte befindet, ohne dass Beschleunigungen im Bereich des Kopfes, der Brustwirbelsäule und der sonstigen auf den Körper einwirkenden Zugkräfte daraus abgeleitet werden können (vgl. Born/Rudolf/Becke, NZV 2008, 1, 4; zustimmend Jaeger/Luckey, a.aO. Rn 704).

2. Eine weitere Hürde für die Nachweisführung des Geschädigten wird häufig darin gesehen, dass das von dem erstbehandelnden Arzt erstellte Attest keinen Beweiswert habe (vgl. KG NZV 2010, 622). Überlegungen in dieser Richtung legen es nahe, dass der erstbehandelnde Arzt als Therapeut, nicht als kritischer Beweiswürdiger tätig wird, damit eine Untersuchung des Wahrheitsgehalts der Angaben des Verletzten nicht als seine oberste Pflicht ansehen wird (vgl. Lemcke, NZV 1996, 337; Mazotti/Castro, NZV 2002, 499; Jaeger, VersR 2006, 1611). Eine unter diesem Blickwinkel erfolgende Bewertung des Attestes als unerheblich und ohne jeden Aussagewert erscheint jedoch verfehlt, wenn das Attest auch eigene Feststellungen von Untersuchungen des Arztes enthält und damit von den Angaben des angeblich Verletzten losgelöste objektivierbare Befunde enthält (vgl. hierzu OLG Bamberg NZV 2001, 470; LG Lüneburg zfs 2003, 123; LG Lübeck zfs 2000, 436). Dem Attest jeden Beweiswert zu versagen erscheint auch unter dem Blickwinkel fehlerhaft, weil der Geschädigte mit dem Attest und weiteren damit in Verbindung stehenden Umständen, wie einer vor dem Unfallereignis bestehenden Beschwerdefreiheit, Auftreten von Steilstellungen und Hartspann im Bereich der Wirbelsäule den Versuch einer Indizbeweisführung unternimmt, bei der eine Gesamtbetrachtung die Beurteilung des Nachweises der Haupttatsache ergeben kann (vgl. BGHZ 53, 261; BGH NJW 1983, 2935; BGH VersR 1983, 375). Schließlich kann die Bewertung einer Tatsachenbehauptung als erwiesen auch auf die glaubhaften Angaben einer Partei gestützt werden, was nicht mit der Begründung in Zweifel gezogen werden kann, dass eine in Verkehrsunfallsachen "leider nicht unübliche Schwindelei" mit einer HWS-Verletzung nach einem Unfall vorliege (so AG Berlin-Mitte SP 2005, 122). Für diese "Vorverurteilung" bestehen keine belastbaren Nachweise (vgl. auch Jaeger/Luckey, a.a.O. Rn 733).

3. Eine weitere Hürde für den Nachweis von HWS-Verletzungen wird in einem Katalog medizinischer Befunde gesehen, die für das Vorliegen einer HWS-Verletzung keine Aussagekraft haben sollen, weil sie einen Normalbefund in der Bevölkerung darstellen sollen (vgl. Jahnke, in: van Bühren/Lemcke, Anwaltshandbuch Verkehrsrecht, 2. Aufl., Teil 4 Rn 42 ff.). Hartspann, Steilstellung der HWS und ggf. auch Verspannungen sollen zum Normalbefund der Bevölkerung gehören, jedenfalls keine spezifischen Folgen eines HWS-Syndroms sein. Solche juristischen Aussagen über medizinische Sachverhalte verletzen den Grundsatz, dass medizinische Fragen auch medizinisch beantwortet werden müssen (vgl. Jaeger/Luckey, a.a.O, Rn 730). Die Beantwortung fachfremder Fragen durch juristische Aussagen kann inhaltlich zutreffend sein, bedarf allerdings des Nachweises eigener Sachkunde, der nicht durch die Zitate von ...

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