Das OLG Hamm hat in seiner Entscheidung nicht alle Probleme angesprochen.

I. Anwendbares Gebührenrecht

Das OLG Hamm ist ohne nähere Erörterung davon ausgegangen, dass dem Rechtsanwalt der Kl. die Vergütung für das selbstständige Beweisverfahren wegen des vor dem 1.7.2004 erteilten Auftrags nach der BRAGO, die Vergütung für das Mahnverfahren und den Hauptsacherechtssteit aufgrund des jeweils nach diesem Stichtag erteilten Auftrags hingegen nach dem RVG angefallen ist. Dies halte ich für zutreffend.

Wie sich die Vergütung in einem solchen Fall berechnet, ist allerdings umstritten.

Nach einer Auffassung soll die Abrechnung einheitlich nach der BRAGO erfolgen (so OLG Zweibrücken AGS 2006, 293 mit Anm. N. Schneider; OLG Brandenburg OLGR 2007, 422).
Nach der Gegenauffassung, die sich zwischenzeitlich durchgesetzt hat, erfolgt die Abrechnung im selbstständigen Beweisverfahren nach der BRAGO, während sich die Anwaltsvergütung für die Tätigkeit im Mahnverfahren und im anschließenden Hauptsacheverfahren nach dem RVG richtet. Maßgeblich ist § 61 Abs. 1 S. 1 RVG, der für jede einzelne der hier vorliegenden drei Angelegenheiten auf den Zeitpungkt der unbedingten Auftragserteilung abstellt. Hier hatten die Kl. nur den Auftrag für das selbstständige Beweisverfahren vor dem 1.7.2004 erteilt, die weiteren Aufträge hingegen nach dem Stichtag. Die im selbstständigen Beweisverfahren gem. §§ 48, 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO angefallene Prozessgebühr ist auf die nachfolgend angefallene Verfahrensgebühr entsprechend § 3 Abs. 5 VV RVG anzurechnen (so BGH RVGreport 2007, 297 (Hansens) = AGS 2007, 357 und AGS 2007, 459; OLG Köln RVGreport 2006, 142 (ders.) = AGS 2006, 241 mit Anm. N. Schneider; OLG Stuttgart AGS 2006, 607; OLG Düsseldorf AGS 2007, 34; OLG Hamm AGS 2006, 62; OLG München RVGreport 2006, 262 (ders.) = AGS 2006, 345).

II. Die einzelnen Gebührenanrechnungen

Der Rechtsanwalt der Kl. hat hier nacheinander mehrere Prozess- bzw. Verfahrensgebühren verdient, die gem. § 6 Abs. 1 S. 2 BRAGO bzw. Nr. 1008 VV RVG für die Vertretung eines weiteren Auftraggebers zu erhöhen waren. Dabei handelt es sich im Einzelnen um folgende Gebühren:

Die (10/10 + 3/10 =) 13/10 Prozessgebühr im selbstständigen Beweisverfahren gem. §§ 6 Abs. 1 S. 2, 48, 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO.
Die (1,0 + 0,3 =) 1,3 Verfahrensgebühr im Mahnverfahren nach Nr. 1008, 3305 VV RVG.
Die (1,3 + 0,3 =) 1,6 Verfahrensgebühr im Hauptsacherechtsstreit nach Nr. 1008, 3100 VV RVG.

Für diese Gebühren sind hier folgende Anrechnungsvorschriften einschlägig:

Die nach der BRAGO berechnete 13/10-Prozessgebühr ist in voller Höhe entsprechend Vorbem. 3 Abs. 5 VV RVG auf die im Mahnverfahren angefallene 1,3 Verfahrensgebühr anzurechnen.
Die für die Vertretung der Antragsteller im Mahnverfahren angefallene 1,3 Verfahrensgebühr ist nach der Anm. zu Nr. 3305 VV RVG auf die 1,6 Verfahrensgebühr des nachfolgenden Hauptsacherechtsstreits anzurechnen.

Die Kl. hatten hier die Auffassung vertreten, infolge der Anrechnung der 13/10-Prozessgebühr auf die 1,3 Verfahrensgebühr des Mahnverfahrens sei letztere "aufgezehrt". Folglich komme eine Anrechnung der Verfahrensgebühr des Mahnverfahrens nach der Anm. zu Nr. 3305 VV RVG auf die Verfahrensgebühr des Hauptsacherechtsstreits nicht mehr in Betracht. Dem hatte sich auch die Rechtspflegerin des LG Dortmund angeschlossen. Dies entsprach auch meiner Anrechnungslösung in RVGreport 2009, 81, 84 f.

Demgegenüber hat die wohl ganz herrschende Auffassung in der Rspr. auch bei einer mehrfachen Anrechnung die Anrechnung jeweils in vollem Umfang vorgenommen (so BGH AGS 2010, 521 = JurBüro 2011, 80; OLG Köln AGS 2009, 476; siehe auch OLG Stuttgart RVGreport 2009, 100 (Hansens) = AGS 2008, 384). Dem hat sich das OLG Hamm hier angeschlossen.

III. Die Berechnung der Vergütung

Die praktischen Auswirkungen der Entscheidung des OLG Hamm, die in den Beschlussgründen nicht so deutlich zum Ausdruck kommen, sollen durch nachfolgende Berechnung dargestellt werden:

1. Selbstständiges Beweisverfahren:

 
1. 13/10 Prozessgebühr, §§ 6 Abs. 1 S. 2, 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO (Wert: 133.821,81 EUR) 1.960,40 EUR
2. Postentgeltpauschale, § 26 S. 2 BRAGO 20,00 EUR
3. 19 % Umsatzsteuer, § 25 BRAGO 376,28 EUR
Summe: 2.356,68 EUR

2. Mahnverfahren:

 
1. 1,3 Verfahrensgebühr, Nr. 1008, 3305 VV RVG (Wert: 133.821,81 EUR) 1.960,40 EUR
2. Hierauf entsprechend Vorbem. 3 Abs. 5 VV RVG anzurechnen: 13/10 Prozessgebühr aus 1.1. -1.960,40 EUR
Rest: 0,00 EUR
3. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR
4. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG 3,80 EUR
Summe: 23,80 EUR

3. Hauptsacherechtsstreit:

 
1. 1,6 Verfahrensgebühr, Nr. 1008, 3100 VV RVG (Wert: 133.821,81 EUR) 2.412,80 EUR
Hierauf gem. der Anm. zu Nr. 3305 VV RVG anzurechnen: 1,3 Verfahrensgebühr aus 2.1. -1.960,40 EUR
Rest: 452,40 EUR
2. 1,2 Terminsgebühr, Nr. 3104 VV RVG (Wert: 133.821,81 EUR) 1.809,60 EUR
3. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR
Zwischensumme: 2.282,00 EUR
4. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG 433,58 EUR
Summe: 2.715,58 EUR

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