ZPO § 156 § 296a

Leitsatz

Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wieder eröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren.

BGH, Beschl. v. 20.9.2011 – VI ZR 5/11

Sachverhalt

Der Kl. hat die Bekl. wegen behaupteter fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Der Kl. wurde in der von der Bekl. betriebenen Klinik im Mundraum einem über 14 Stunden dauernden operativen Eingriff unterzogen. Die Operation gliederte sich in verschiedene Abschnitte, über die jeweils gesonderte Operationsberichte und Operationsprotokolle erstellt wurden. Während der ersten 37 Minuten der Operation wurde eine Tracheotomie vorgenommen. Nach der Operation wurden beim Kl. Drucknekrosen am Rücken, Kopf und Gefäß und rückseitigen Oberschenkel festgestellt. Der Kl. hat diese auf von der Bekl. zu verantwortende Fehler bei der Lagerung im Rahmen der Operation zurückgeführt. Dem Bekl. war ein Schriftsatz nachgelassen worden, in dem dieser unter Beifügung von Operationsprotokollen und Arbeitszeiterfassungsdrucken zur nach seiner Meinung ordnungsgemäßen Lagerung des Kl. auf dem Operationstisch vortrug. Hierauf stützte das BG seine Überzeugung von der ordnungsgemäßen Lagerung des Kl. auf dem Operationstisch und bestätigte unter Abweisung der Berufung des Kl. das klageabweisende erstinstanzliche Urt., ohne die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen. Darin sah der BGH eine Verletzung des Anspruchs des Kl. auf rechtliches Gehör. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Kl. führte zur Aufhebung des angegriffenen Urt. und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BG.

2 Aus den Gründen:

[5] "… b) Hierdurch hat es den Anspruch des Kl. auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern. Das Gericht darf nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (BVerfG NJW 1994, 1210). Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wieder eröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Musielak/Stadler, ZPO, 8. Aufl., § 156 Rn 4; Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 296a Rn 4). Dies gilt umso mehr, wenn – wie im vorliegenden Fall – im nachgelassenen Schriftsatz präsente Beweismittel vorgelegt werden, die gem. § 285 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen sind (vgl. Senat BGH-Report 2006, 529 = BeckRS 2006, 00993)."

[6] 2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BG den Beweis für eine ordnungsgemäße Lagerung des Kl. auf dem Operationstisch nicht als geführt angesehen hätte, wenn es die mündliche Verhandlung wieder eröffnet und dem Kl. Gelegenheit zur Erwiderung gegeben hätte.

[7] 3. Bei der neuen Verhandlung wird das BG Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen. Für das weitere Verfahren weist der erkennende Senat darauf hin, dass die Behandlungsseite bei Auftreten operationsbedingter Lagerungsschäden wie im Streitfall die Beweislast nicht nur für die technisch richtige Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch und die Beachtung der dabei zum Schutz des Patienten vor etwaigen Lagerungsschäden einzuhaltenden ärztlichen Regeln, sondern auch dafür trägt, dass die richtige Lagerung vor und während der Operation in standardgemäßem Umfang kontrolliert worden ist (vgl. Senat NJW 1984, 1403 = VersR 1984, 386; NJW 1995, 1618 = VersR 1995, 539; OLG Köln VersR 1991, 695 mit NA-Beschl. des Senats v. 20.11.1990; OLG Oldenburg VersR 1995, 1194 mit NA-Beschl. des Senats v. 11.7.1995).“

3 Anmerkung:

Enthält der nachgelassene Schriftsatz neues Vorbringen, zu dem sich der Gegner naturgemäß nicht äußern könnte, ist stets die Wiedereröffnung des Verfahrens (§ 156 ZPO) geboten (vgl. OLG München WRP 1972, 41, 42; OLG Koblenz NJW-RR 2001, 65; vgl. auch BGH NJW-RR 2003, 742). Hatte das Gericht einen gebotenen Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung erteilt, war es wegen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs gehalten, der betroffenen Partei Gelegenheit zur Stellungnahme hierauf zu geben. War die Partei außer Stande hierzu Stellung zu nehmen, lag jedenfalls in einem Schließen der mündlichen Verhandlung ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl. BGH NJW 1999, 2123; BGH NJW-RR 2007, 412).

Vielmehr hatte da...

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