Der Anscheinsbeweis hat bereits eine lange Tradition. Er wurde vom Reichsgericht entwickelt[2] und ist inzwischen gewohnheitsrechtlich anerkannt.[3] Gleichwohl ist er, wie Musielak bereits im Jahre 1975 bemerkte, eine schillernde Erscheinung,[4] um die sich zahlreiche Fragen ranken. Die Problematik wird durch das folgende einfache Beispiel verdeutlicht:

Angenommen, jeder Zweite von Ihnen verfällt innerhalb der ersten Viertelstunde meines Vortrags in Tiefschlaf. Spricht dann der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass mein Vortrag zu langweilig war und Sie deshalb eingeschlafen sind? Oder ist die Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis von vornherein ausgeschlossen, weil der gestrige Abend so nett und anregend war, dass eine nicht näher bekannte Anzahl der Zuhörer ihr Bett erst in den frühen Morgenstunden gefunden hat? Wer entscheidet über diese Fragen? Die für abendliche Veranstaltungen äußerst aufgeschlossene Nachteule, die keine Feier vor fünf Uhr morgens verlässt und tagsüber gern mal eine Ruhepause einlegt, sobald sie nicht unmittelbar gefordert ist? Oder der auf seinen Schlaf Bedachte, der sich immer frühzeitig in sein Zimmer zurückzieht und Aufmerksamkeitsdefizite während des Tages nur im Zusammenwirken mit besonders ermüdenden Umständen kennt? Auch wenn ich annehme, dass keiner von ihnen Schadensersatzansprüche aus meinem Vortrag ableiten möchte, lohnt sich eine nähere Betrachtung der aufgeworfenen Fragen.

[2] RGZ 21, 104, 110; RGZ 130, 357, 359; RGZ 134, 237, 242.
[3] Saenger in Saenger, ZPO, 4. Auflage, § 286 Rn 38; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Auflage, § 286 Rn 135, 141; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, § 286 Rn 25.
[4] Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess, 1975, S. 83 ff.

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