GG Art. 103 Abs. 1; OWiG §§ 71 Abs. 1, 74 Abs. 1; StPO §§ 222

1. Im Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG dürfen nur die dem Betroffenen bekannten Beweismittel verwendet werden. Andernfalls kann der Betroffene seine Verteidigung nicht ausreichend, nämlich gezielt auf alle vorhandenen, ihm bekannten Beweismittel einrichten. Insb. kann er, wenn er nicht alle ihn belastenden Beweismittel kennt, nicht uneingeschränkt entscheiden, ob er tatsächlich von der ihm durch das AG gem. § 74 Abs. 1 OWiG eingeräumten Möglichkeit, der Hauptverhandlung fern zu bleiben, Gebrauch machen und nicht am Hauptverhandlungstermin teilnehmen will.

2. Verwendet das Gericht dem Betroffenen bislang nicht bekannte Beweismittel, so begründet dies die Rechtsbeschwerde auch dann, wenn ein Zeuge vernommen wurde, der bereits im Bußgeldbescheid benannt wurde.

(Leitsätze der Schriftleitung)

OLG Bamberg, Beschl. v. 19.7.2010 – 2 Ss OWi 1201/10

Das AG verurteilte den Betroffenen, der vom persönlichen Erscheinen entbunden war und ebenso wie sein Verteidiger nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hatte, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h zu einer Geldbuße von 80 EUR und verhängte gleichzeitig ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hebt das OLG das Urteil des AG mit den Feststellungen auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurück.

Aus den Gründen:

“… II. Die gem. § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen führt bereits mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs zum — zumindest vorläufigen — Erfolg.

Insoweit führt die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Antragsschrift vom 14.7.2010 dazu näher aus:

‘Mit seiner Verfahrensrüge, die den Anforderungen nach § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügt, macht der Betroffene erfolgreich eine Verletzung rechtlichen Gehörs geltend, weil das AG seine dem Betroffenen nachteilige Entscheidung auf die Aussage des Zeugen POK W in der Hauptverhandlung gestützt hat, obwohl die Hauptverhandlung in erlaubter Abwesenheit des nicht durch einen Verteidiger vertretenen Betroffenen durchgeführt wurde und ausweislich der vorliegenden Ladungsurkunden weder dem Betroffenen noch seinem Verteidiger unter Verstoß gegen § 222 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG bekannt gemacht wurde, dass der Zeuge zur Hauptverhandlung geladen worden war.

Im Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG dürfen nur die dem Betroffenen bekannten Beweismittel verwendet werden (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 74 Rn 17; KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn 13 jeweils m.w.N.; OLG Hamm VRS 93, 359). Andernfalls kann der Betroffene seine Verteidigung nicht ausreichend, nämlich gezielt auf alle vorhandenen, ihm bekannten Beweismittel einrichten. Insb. kann er, wenn er nicht alle ihn belastenden Beweismittel kennt, nicht uneingeschränkt entscheiden, ob er tatsächlich von der ihm durch das AG gem. § 74 Abs. 1 OWiG eingeräumten Möglichkeit, der Hauptverhandlung fern zu bleiben, Gebrauch machen und nicht am Hauptverhandlungstermin teilnehmen will (OLG Hamm a.a.O.).

Verwendet das Gericht dem Betroffenen bislang nicht bekannte Beweismittel, so begründet dies die Rechtsbeschwerde auch dann, wenn ein Zeuge vernommen wurde, der bereits im Bußgeldbescheid benannt wurde (BayObLG, Beschl. v. 29.4.1985, 1 Ob OWi 104/85, zit. nach Rüth, DAR 86, 247; OLG Hamm NZV 1996, 43/44; Göhler, a.a.O., § 71 RN 27). Die von KK-Senge (a.a.O.) wohl vertretene abweichende Auffassung überzeugt im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut des § 222 StPO nicht (vgl. OLG Hamm a.a.O, m.w.N. für das Strafverfahren).

Da der Betroffene dargelegt hat, wie er sich verteidigt hätte, wenn ihm die Ladung des Zeugen bekannt gewesen wäre, ist auch nicht auszuschließen, dass das Urteil anders ausgegangen wäre, wenn dem Betroffenen die Lichtbilder bekannt gewesen wären, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 337 StPO.’

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an.

Da die Rechtsbeschwerde bereits mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs Erfolg hat, bedürfen die weiteren erhobenen Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts keiner Erörterung mehr. …”

Mitgeteilt von RA JR Hans-Jürgen Gebhardt, Homburg

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