Die Konsequenzen dieser Überlegungen sind rechtlicher Natur. Die Judikative ist an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) es liegt nicht in ihrer Macht die grundlegenden Funktionen des geltenden Haftungsrechtes außer Kraft zu setzten. Indem die Judikative den Angehörigen bisher angemessenen Schadensersatz verweigert, lässt sie die grundlegende Steuerungsfunktion, insbesondere die Ausgleichs-, Genugtuungs- und Präventionsfunktion, des Schadensrechtes, leer laufen. Das ist verfassungswidrig. Es liegt nicht nur ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG vor, sondern auch ein Verstoß gegen Art. 1 GG, denn die Menschenwürde gebietet es, die Funktion des Haftungsrechtes in einer Rechtsordnung gegenüber jedermann durchzusetzen. Es ist aber auch das Rechtsstaatsprinzip berührt, das es nicht erlaubt Schäden, die Dritte verursachen, denen aufzubürden, die geschädigt werden, und es ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip berührt, das eine solche Schadensverlagerung als nicht nur nicht erforderlich, sondern als schlechthin ungeeignet verbietet.

Das Zivilrecht kann und darf den Leerlauf grundlegender Funktionen der Haftungsordnung nicht hinnehmen. Wenn mit Blick auf nahe Angehörige die vielfach beschworene systematisch-dogmatische Lücke tatsächlich bestehen sollte, wäre das oberste Zivilgericht, der Bundesgerichtshof, aufgerufen, diese "black box" zu Lasten Dritter aufzulösen und denjenigen, deren Leben durch den Eingriff des Schädigers dauerhaft beeinträchtigt ist, einen angemessenen Anspruch auf Schmerzensgeld zuzuweisen. Es genügt nicht, wenn die Richterin des zuständigen VI. Zivilsenates des BGH, Angela Diederichsen, rhetorisch fragt: "Könnte nicht die Annäherung an den Rechtszustand der meisten europäischen Länder im Haftungssystem durch eine allmähliche Lockerung der Anspruchsvoraussetzungen für den Ersatz eines Schockschadens ausreichen und insgesamt angemessener sein?"[15] Das höchste deutsche Zivilgericht hat vielmehr die im Rechtssystem erkannte und als Unrecht empfundene Lücke mit Mitteln der verfassungsrechtlichen Interpretation zivilrechtlicher Tatbestandsmerkmale zu füllen, so wie es das BVerfG im Fall "stille Reserven in der Lebensversicherung" entschieden hat.[16] Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Prinzip des effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) erlauben es nicht, höchstrichterlich empfundenes Unrecht, am Nagel dogmatischer Lücken des Zivilrechts aufzuhängen und zu vergessen.

Im gleichen Sinne wirkt heute die europäische Charta der Grundrechte in das nationale Verfassungsrecht ein. Das Prinzip der Menschenwürde (Art.1), das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (Art. 51), das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes (Art. 47), das Prinzip der Willkürfreiheit (Art. 20, 21) und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) sind allesamt inzwischen auch europäische Standards mit Verfassungsrang und wirken supranational über das nationale Verfassungsrecht in die einfachgesetzliche Rechtsordnung hinein. Schließlich stellt Art. 41 EMRK klar, dass dann, wenn das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung vorsieht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der verletzten Partei eine Entschädigung zuspricht. Diese umfasst auch Nichtvermögensschäden.[17] Selbst juristischen Personen und Presseunternehmen kann (seit 1.1.2000) der Ersatz für Nichtvermögensschäden zugesprochen werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung der Meinungsfreiheit und dem geltend gemachten Schaden besteht.[18]

Diesen Grundwertungen kann und darf eine nationale Rechtsordnung sich nicht verschließen. Es ist auch nicht erforderlich auf den Gesetzgeber zu verweisen, da es Aufgabe der höchsten Zivilgerichtes ist, die tatbestandlichen Voraussetzungen des geltenden Haftungsrechts im Sinne der Grundfunktionen dieses Rechtskreises und der verfassungsrechtlichen Wertungen, einschließlich der Wertungen des Europarechts, fortzuentwickeln.

Genau besehen allerdings bedarf es dieser groß angelegten verfassungsrechtlichen Interpretation der Tatbestandsmerkmale Körper und Gesundheit in § 253 Abs. 2 BGB nicht. Denn die Handlung des Schädigers verletzt immer und untrennbar nicht nur das Opfer selbst, sondern die mit diesem psychisch-sozial verbundenen nahen Angehörigen. Die Psyche des Opfers ist Teil der Psyche der Angehörigen und umgekehrt. Der Schädiger greift in ein soziales Netzwerk ein, das als solches über den Begriff der Körper- und Gesundheitsverletzung zu einem Rechtsgut des Haftungsrechtes wird. Der Eingriff in dieses soziale Netzwerk geschieht unmittelbar und verletzt das gesamte Netzwerk ohne jegliche Zwischenschritte.

Es wäre merkwürdig, wenn der Schädiger zwar die Psyche des Opfers, aber die, in dieser Psyche verankerte und Teil des Opfers gewordene, psychische Existenz seiner Angehörigen nicht verletzen würde. Das Opfer nimmt aber nicht die gesamte Welt in seine Psyche auf – dies ist für den sozialen Zusammenhalt einer menschlichen Gesellschaft auch nicht erforderlich. Das ...

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