Auch für Haftpflichtgeschehen vor dem 1.1.2021 hat die Gesetzesnovelle Konsequenzen. Für die Auslegung des bis zum 31.12.2020 nicht geänderten § 116 Abs. 6 SGB X (Altfall) hat die nachfolgende Rechtsprechung den jetzt explizit geäußerten gesetzgeberischen Willen (Novellierung des § 116 SGB X durch das 7. SGB IV-ÄndG)[81] für Schadenfälle mit Unfalldatum vor dem 1.1.2021 die sog. "Vorwirkung von Gesetzen" zu beachten:[82] Gesetze können bei ihrer Verabschiedung nicht sämtliche später auftauchende Aspekte berücksichtigen; auch durch Rechtsprechung entstehende Entwicklungen sind selten vorhersehbar. Aufgabe der Gerichte ist es daher auch, Gesetze – u.U. auch über den Wortlaut hinaus – im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auszulegen.[83] Auch erst in der Entwicklung befindliche Gesetzgebungsvorhaben sind zu beachten.[84] Fehlt es an einer gesetzlichen Klärung der in Rede stehenden Frage, steht der Berücksichtigung künftigen Rechts weder die Bindung des Richters an das geltende Recht noch ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine von der Regelung des neuen Rechts verschiedene Rechtspraxis entgegen.[85] Dies gilt nicht zuletzt bei Rechtsfragen, bei denen es keine "harte Rechtsnorm" gibt.

§ 120 SGB X n.F. enthält zwar eine Stichtagsregelung. Diese dient nur – wie der Gesetzesbegründung zu entnehmen ist[86] – der Planungssicherheit (Anhebung der Versicherungsprämie) für die durch § 116 Abs. 6 S. 3 SGB X erstmals und systemändernd belastete Kfz-Versicherung und bringt nicht den gesetzgeberischen Willen zum Ausdruck, bis dahin noch Bereicherungen auf Seiten der Geschädigten zuzulassen. Der Wegfall dieser erst durch Rechtsprechung ermöglichten Bereicherung verdient keinen Schutz, sondern ist unter dem Aspekt der "Vorwirkung von Gesetzen" bereits vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung durch entsprechende judikative Korrektur des § 116 Abs. 6 SGB X a.F. umzusetzen. Der gesetzgeberische Wille wird positiv zum Ausdruck gebracht und steht dem von der Rechtsprechung (unzutreffend) unterstellten[87] positiven Schweigen diametral gegenüber.

[81] Siehe oben Fn 45.
[82] Lang jurisPR-VerkR 6/2018 Anm. 1.
[83] Drechsler, Grundlagen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung, ZJS 2015, 344. Siehe BVerfG, Urt. v. 3.4.1990 – 1 BvR 1186/89 – NJW 1990, 1593. Zur Pflicht der Fachgerichte, Auslegungsprobleme mit Hilfe der anerkannten Grundsätze der juristischen Methodenlehre – einschließlich der Analogie einer einzelnen gesetzlichen Bestimmung oder sogar einer Gesamtanalogie eines Konglomerats von gesetzlichen Regelungen – zu bewältigen, BVerfG Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08 – BVerfGE 132, 99 (Rn 74, 77 f.) m.w.N.; BVerfG Beschl. v. 4.6.2012 – 2 BvL 9/08, 2 BvL 10/08, 2 BvL 11/08, 2 BvL 12/08 – BVerfGE 131, 88 (122, 125) m.w.N.
[84] BGH, Urt. v: 21.11.1996 – IX ZR 148/95 – NJW 1997, 657; BGH, Urt. v. 8.10.1991 – XI ZR 259/90 – NJW 1992, 109; BSG, Urt. v. 12.11.2003 – B 8 KN 1/02 U R – BSGE 91, 269 (Rn 21); Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 1974, 111; Jahnke, Der Verdienstausfall im Schadenersatzrecht, 4. Aufl. 2015, § 2 Rn 148, 445, 467 m.w.N.; Jahnke, Angehörigenprivileg im Wandel, NZV 2008, 57 (III.1.b)cc) sowie dort Fn 67) m.w.H.; Kloepfer, Künftige Normen und Verwaltungshandeln, DÖV 1973, 657; Knödler/Daubner, Angekündigte Rechtsprechungsänderungen, BB 1992, 1861; Neuner, Festschrift für Canaris, 2002, S. 83.
[85] BGH, Urt. v: 21.11.1996 – IX ZR 148/95 – NJW 1997, 657.
[86] Dies ergibt sich letztlich auch aus BT-Drucks 19/19037 v. 6.5.2020, S. 55 (zu Buchst. e)).
[87] Dazu Jahnke jurisPR-VerkR 5/2018 Anm. 1 sowie oben zu II.4.b)bb)).

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