aa) Historie

Es hat in den 110 Jahren seit 1908 drei gesetzliche Ausprägungen der Angehörigenprivilegierung gegeben: § 67 VVG a.F., § 86 VVG und § 116 SGB X. Das Privileg wurde und wird außerhalb des VVG auf jeglichen Drittleistungsregress – mit Ausnahme des Sozialhilferegresses[59] – anspruchsausschließend angewendet.[60] Soweit andere Rechtsgebiete (wie Beamtenrecht, OEG, EFZG)[61] keine Kodifizierung des anspruchsausschließenden Privilegs enthalten, werden dort gleichwohl Ansprüche – allseits akzeptiert[62] – ohne jeglichen gesetzgeberischen Ansatz in Analogie zu § 67 VVG a.F./§ 86 VVG behandelt.[63]

Der BGH[64] hat den Parallellauf des – in § 86 Abs. 3 VVG und § 116 Abs. 6 SGB X nur exemplarischen geregelten – Angehörigenprivilegs aufgegeben.[65] Hätte der BGH das Angehörigenprivileg, seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung[66] folgend, weiterhin als einheitlichen Block angesehen, der in allen Bereichen des Drittleistungsregresses eine identische Anwendung findet, hätte sich dasselbe Ergebnis (keine Bereicherung im Schadenfall) ergeben. Ausgangs stellt sich daher die Frage: "Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?", nicht zuletzt mit Blick auf etliche sich als bedenklich erweisende Aussagen im Urteil und daraus resultierende Konsequenzen.

[61] BGH, Urt. v. 8.1.1965 – VI ZR 234/63 – NJW 1965, 907; BGH, Urt. v. 4.3.1976 – VI ZR 60/75 – NJW 1976, 1208.
[64] BGH, Urt. v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16 – NJW 2018, 1242; siehe auch die kritischen Anmerkungen von Höher VersR 2018, 831; Jahnke jurisPR-VerkR 5/2018, Anm. 1; Lemcke r+s 2018, 50; Martin NZV 2018, 133; Plagemann jurisPR-MedizinR 2/2018 Anm. 2.
[65] Zu den Konsequenzen, aber auch Fallstricken dieser Entscheidung siehe die Besprechung Jahnke jurisPR-VerkR 5/2018, Anm. 1.

bb) Konsequenzen

Unverständlich sind die Konsequenzen der BGH-Entscheidung insbesondere, wenn mehrere Personen zwar gleichzeitig durch dieselbe Handlung verletzt, rechtlich aber unterschiedlich behandelt werden. Die unterschiedlichen finanziellen Auswirkungen vermag kaum ein Anwalt seiner Mandantschaft nahe zu bringen: Der Fachmann staunt und der Laie wundert sich.

Zur Verdeutlichung folgendes Beispiel:

A ist angestellter Lehrer und lebt mit seiner verbeamteten Kollegin F in einer festen nicht-ehelichen Gemeinschaft. A befördert in seinem Auto (versichert bei Kfz-Versicherung V) zwei in seinem Haushalt lebende Kinder: Das eine Kind ist sein eigenes Kind (KA), das andere Kind (KF) seiner Lebenspartnerin stammt aus deren früherer Beziehung. Beide Kinder erhalten Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung: Für KA ist die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung (GKV) zuständig; für KF die beamtenrechtliche Beihilfe, ergänzt durch die private Kranken- und Pflegeversicherung (PKV). F, KA und KF werden verletzt.

1. Soweit die Partnerin F verletzt wird, kann ihr öffentlich-rechtlicher Dienstherr keinen Regress nehmen. Da § 86 Abs. 3 VVG analog für den Dienstherrenregress (neben Gehaltsfortzahlung auch Beihilfeaufwand für Krankheit und Pflege) gilt, erfolgt zwar ein Forderungsübergang (und damit ein Anspruchsverlust bei F), es ist aber die Regressnahme untersagt (Haushaltsangehörigenprivileg).[67]

2. Für das Kind KA ist die GKV leistungszuständig, damit gilt § 116 Abs. 6 SGB X. Nach Auffassung des BGH darf KA die Leistungen der GKV in Geldwert umgerechnet von A bzw. dessen Versicherer (V) einfordern, obwohl in der Person von KA aufgrund der Drittleistungen der GKV keine Vermögenseinbuße nach Differenzbetrachtung feststellbar ist.

3. Das Kind KF hat Leistungsansprüche gegen die PKV und die beamtenrechtliche Beihilfe. Hier kommt § 86 Abs. 3 VVG zur Anwendung mit der Konsequenz, dass – soweit Drittleistungen erbracht werden – bei KF die Aktivlegitimation entfallen ist. Nur soweit nach Berücksichtigung der Drittleistungen bei KF noch Einbußen verbleiben (Differenzbetrachtung), kann KF Forderungen gegen A (und V) geltend machen.

Das Angehörigenprivileg bleibt für die gesamte Schadenabwicklung bestehen; das gilt auch, wenn KF später die häusliche Gemeinschaft verlässt; die Regresssperre zulasten der Drittleistungsträger bleibt absolut. Kommt es in späterer Zeit dazu, dass KF aus der beamtenrechtlichen Versorgung herausfällt[68] und in den Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Sozialversorgung (neben GKV u.a. Rentenversicherung) fällt, brächte dies dann KF in eine finanziell interessante Position: Entscheidet KF sich für die GKV, gewinnt er zusätzliche Geldeinnahmen (mangels Verrechnung mit seinem Schaden), entscheidet er sich für die PKV, bleibt er auf den Ersatz seines verbleibenden Schadens (ohne Gewinnanteil) beschränkt.

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