Dass seitens der Gesetzgebung einerseits eine Bereicherung nur der sozialversicherten Bevölkerungsanteile gewollt war, andererseits aber u.a. Privatversicherte und Beamte (hier gilt § 86 VVG analog) von solcher Segnung bei einem Haftpflichtgeschehen ausgeschlossen werden, lässt sich auch nicht ansatzweise der Gesetzgebungshistorie[41] entnehmen (§ 116 VI SGB X normierte ausdrücklich lediglich die vorangegangene Rechtsprechung ohne ergänzende eigenständige Ideen).[42] Ein solches gesetzgeberisches Unterfangen wäre willkürlich und sachlich nicht zu rechtfertigen und würde Art. 3 GG nicht standhalten (die verfassungsrechtliche Frage hat der BGH offengelassen).[43] Es fehlt die Antwort, warum der Gesetzgeber 1983 mit § 116 SGB X – als die Bereicherungsproblematik unbekannt war – nur den Sozialversicherten zu einer Bereicherung am Schadenfall verholfen haben sollte, während derselbe Gesetzgeber – als er sich dem Bereicherungsproblem positiv zu stellen hatte – diese Bereicherung 2008 in § 86 VVG ausdrücklich verweigerte.

Der Hinweis auf gesetzgeberische Untätigkeit reicht als Begründung nicht, bloße Untätigkeit lässt keine entsprechenden Schlüsse zu. Wenn der Gesetzgeber nicht zu rechtfertigende Bereicherungen erkannte und gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestand, wurde er tätig.[44] Nicht zuletzt die Novellierung des § 116 SGB X durch das 7. SGB IV-ÄndG[45] zeigt den gesetzgeberischen Willen zur Bereicherungsvermeidung. Positives ("beredtes") Schweigen des Gesetzgebers mit dem Ziel, bestimmte Personengruppen nach einem Haftpflichtgeschehen zu bereichern, zu vermuten, bedarf näherer Darlegung; dieses lässt die Entscheidung vermissen.[46]

Die Auffassung des BGH, es könne nur der Gesetzgeber tätig werden und der Rechtsprechung seien Korrekturen verwehrt, steht im Gegensatz zu seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung,[47] die ein einheitlich aufzufassendes Privileg nur durch Rechtsprechung statuierte, ausgestaltete und selbst für Rechtsgebiete, in denen der Gesetzgeber noch nicht einmal ansatzweise aktiv war, zur Anwendung gelangen ließ. Das Angehörigenprivileg war (worauf Lemcke[48] ausführlich hinweist) außerhalb von § 67 VVG a.F. immer schon Richterrecht ohne Einflussnahme des Gesetzgebers. Aufgabe der Rechtsprechung ist durchaus, Gerechtigkeitslücken im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips so weit wie möglich zu schließen; dazu ist ein rechtliches Instrumentarium entwickelt worden (wie Vorteilsausgleich, normativer Schaden). Ungerechtigkeiten aber gerade erst zum Entstehen zu bringen, ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung und muss sich neben Art. 3 GG – und im Falle des Angehörigenprivilegs zusätzlich Art. 6 GG – auch am Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs. 3 GG) messen lassen.

[41] Zu § 116 SGB X BT-Drucks 19/95 v. 13.1.1981, S. 28; zu § 86 VVG n.F. BT-Drucks 16/3945 v. 20.12.2006, S. 82.
[42] BT-Drucks 9/95 v. 13.1.1981, S. 28; BVerfG, Urt. v. 12.10.2010 – 1 BvL 14/09 – NJW 2011, 1793; Lang/Jahnke, (Keine) Anrechnung von Leistungen der Sozialversicherungsträger beim Angehörigenprivileg nach § 116 Abs. 6 SGB X, VersR 2017, 927 m.w.H.
[44] § 104 Abs. 3 SGB VII bestimmt, dass eine Anspruchsminderung beim Geschädigten erfolgt. Mit der Schadenrechtsreform zum 1.8.2002 wurde durch Änderung des § 249 BGB einer Bereicherung anlässlich eines Haftungsgeschehens entgegengewirkt; zugleich wurde der Grundsatz betont, dass Personenschäden weiterhin nur konkret und nicht etwa fiktiv abzurechnen sind. Ebenso wandte man sich mit der VVG-Reform ausdrücklich durch Veränderung des § 86 VVG gegen eine Doppelentschädigung (BT-Drucks 16/3945 v. 20.12.2006, S. 82). Auch mit § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X wurde vor 1983 erkannt, dass hier die Geltendmachung des Regresses untersagt werden muss, um einer Bereicherung vorzubeugen (BT-Drucks 19/95 v. 13.1.1981, S. 28); die Notwendigkeit, zugleich auch für bereits bestehende Privilegierungen ein Bereicherungsverbot ausdrücklich zu installieren, wurde nicht erkannt (wohl, weil zuvor niemand auf die Idee gekommen war, das Privileg lukrativ auszunutzen).
[45] Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (7. SGB IV-ÄndG) v. 12.6.2020 BGBl I 2020, 1248. Zur Gesetzesbegründung siehe BT-Drucks 19/17586 v. 4.3.2020, BT-Drucks 19/19037 v. 6.5.2020 sowie http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP19/2572/257263.html.
[46] Siehe zur Auslegung gesetzgeberischer Untätigkeit BSG, Urt. v. 13.12.2017 – B 13 R 13/17 R – VersR 2018, 570.
[47] Siehe die Nachweise bei Lemcke r+s 2018, 50 und BVerfG, Urt. v. 12.10.2010 – 1 BvL 14/09 – NJW 2011, 1793.
[48] Lemcke r+s 2018, 50. Siehe ergänzend Jahnke, Der Verdienstausfall im Schadenersatzrecht, 4. Aufl. 2015, § 2 Rn 410 ff.

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