[5] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Zwar stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei der Klägerin nach dem Unfallgeschehen Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten, und die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen gelitten habe. Eine HWS-Distorsion 2. Grades sei durch Beschwerden inklusive sichtbarer Befunde gekennzeichnet. Vorliegend seien bei der Klägerin ein Muskelhartspann und eine Steilstellung der Halswirbelsäule als sichtbare Befunde einer HWS-Distorsion feststellbar gewesen. Damit vereinbar seien auch die durch die Klägerin beschriebenen Kopf- und Nackenschmerzen, da insbesondere Verspannungen häufig mit einer Schmerzentwicklung einhergingen. Die Kammer habe aber Zweifel daran, dass die die Diagnose einer HWS-Distorsion rechtfertigenden sichtbaren Befunde bei der Klägerin eine Primärverletzung, verursacht durch einen Verkehrsunfall mit einer allein bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung von 4 km/h und einer kollisionsbedingten mittleren Beschleunigung von etwa 11 m/s² darstellten. Die Sachverständige habe angegeben, es sei sehr unwahrscheinlich, dass eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule der Klägerin bestanden habe. Es lägen keine Anhaltspunkte für vorbestehende Beschwerden der Halswirbelsäule der Klägerin vor. Auch der Untersuchungsbefund der Klägerin sei im Wesentlichen unauffällig, so dass von einer normalen Belastbarkeit ihrer Halswirbelsäule auszugehen sei. Hinsichtlich der individuellen Unfallsituation ergäben sich ebenfalls keine Besonderheiten. Die Klägerin habe als angeschnallte Fahrerin im stehenden Fahrzeug nach vorne schauend einen Auffahrunfall erlitten. Ihr Körper sei nirgendwo im Fahrzeug angestoßen. Weder die Feststellung eines Muskelhartspanns noch einer Steilstellung der Halswirbelsäule seien verletzungsspezifisch. Sie träten auch bei unfallunabhängigen Beschwerdebildern auf.

[6] Auch eine andere unfallbedingte Primärverletzung der Klägerin könne die Kammer nicht feststellen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Urt. v. 23.6.2020 (VI ZR 435/19), wonach auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzungen zu bewerten seien, halte die Kammer nicht für überzeugend. Das Verständnis, dass starke Kopf- und Nackenschmerzen bereits eine Primärfolge eines schädigenden Ereignisses darstellen könnten, entspreche nicht der Lebenswirklichkeit. Schmerzen stellten stets lediglich eine Reaktion auf eine vorangegangene Körperverletzung dar. Eine Entstehung von Schmerzen ohne organische oder auch psychische Ursache erscheine nicht vorstellbar. Wolle man von diesem Verständnis abweichen, wäre letztlich nur die Aufgabe der Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärschäden als Ausdruck einer Körperverletzung konsequent. Vor diesem Hintergrund werte die Kammer die vorliegenden starken Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin während der Dauer ihrer Krankschreibung nach dem Unfall bereits nicht als Primärfolge des Unfalls.

[7] Abgesehen davon seien die Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin jedenfalls nicht durch den streitgegenständlichen Unfall verursacht worden. Denn die Schmerzen und auch die geschilderte Übelkeit der Klägerin seien Ausdruck eines psychoreaktiven Zustands nach dem Unfallgeschehen. So habe die Klägerin in ihrer persönlichen Anhörung anschaulich davon berichtet, dass sie sich durch ihren eigenen Unfall plötzlich wieder an den tödlichen Unfall einer Freundin sowie den Tod zweier Menschen bei einem Verkehrsunfall, bei dem sie Ersthelferin gewesen sei, erinnert gefühlt habe. Diese Erklärungen sprächen nach Einschätzung der Sachverständigen dafür, dass die Aufregung der Klägerin durch die Erinnerung an den Tod der Freundin, akut ausgelöst durch das streitgegenständliche Unfallgeschehen, zu einer derartigen An- und Verspannung der Klägerin geführt haben könnte, dass es zu den starken Kopf- und Nackenschmerzen gekommen sei. Vor diesem Hintergrund könne der Unfall zwar im Sinne einer conditio-sine-qua-non nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Kopf- und Nackenschmerzen entfielen. Im Hinblick auf das Korrektiv der Schutzzwecklehre müsse eine Haftung der Beklagten jedoch gleichwohl ausscheiden, da ein Schutz vor der Erinnerung an vergangene belastende Ereignisse, die möglicherweise zu Schmerzen führten, jedenfalls nicht mehr in den sachlichen Schutzzweck der einschlägigen deliktischen Sorgfaltspflichten falle. Auch hier zeige sich, dass die durch den BGH geäußerte Ansicht, Kopf- und Nackenschmerzen nach einem Verkehrsunfall könnten bereits eine Primärverletzung darstellen, zu einer kaum im weiteren Prüfungsverlauf durch das Korrektiv der Kausalität wieder begrenzbaren Haftung des Schädigers führen könne. Die Revision sei zuzulassen, da die Frage, ob Kopf- und Nackenschmerzen tatsächlich bereits eine Primärverletzung oder lediglich Sekundärverletzungen darstellten, in Lite...

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