1. Ein Zurechnungszusammenhang zwischen einem Verkehrsunfall, an dem der Geschädigte beteiligt gewesen ist, und den daraus entstandenen psychoreaktiven Folgeschäden kann darin liegen, dass diese aufgrund einer seelischen Fehlverarbeitung eintreten (vgl. BGHZ 132, 341, 343 f.; BGH VersR 2000, 372). Wird ein psychisch Labiler körperlich geschädigt, ist der dabei auftretenden "Bruch im psychischen Gefüge" (Lorenzer, Methodologischen Probleme der Untersuchung traumatischer Neurosen, Psyche 1968, 22, 861–874, zitiert nach Dahlmann, DAR 1992, 325, 326) einerseits eine nahe liegende Möglichkeit, andererseits entlastet dies den Schädiger nicht. Er hat keinen Anspruch darauf, auf einen psychisch normalrobusten Geschädigten zu treffen (vgl. Gerda Müller, VersR 2003, 137, 141 f.; BGH VersR 1993, 589, 590). Eine vor dem Unfallereignis bestehende psychische Labilität kann aber dazu führen, dass eine Anspruchskürzung vorzunehmen ist (vgl. OLG Celle SP 2007, 320 f.). Dass eine besondere konstitutive Schwäche des Verletzten die Ersatzpflicht nicht ausschließt, steht nicht der Prüfung entgegen, dass die ungünstige Veranlagung des Geschädigten in absehbarer Zeit zu denselben gesundheitlichen Folgen geführt hätte (vgl. BGH VersR 1974, 1030; BGH NJW 1996, 990; OLG Hamm NZV 2002, 171; vgl. auch Eilers, 46. VGT, S. 115).

2. Klassifiziert sind die psychoreaktiven Störungen nach einem Unfall in dem von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Diagnosesystem Kapitel F des ICD10 (Weltgesundheitsorganisation und Dilling et al., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis, 2006). Folgende Diagnosen werden aufgeführt:

akute Belastungsreaktion (F 43.0),
posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1),
Anpassungsstörung (F 43. 2),
andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.1),
Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (F 68.0).

Bei der Deutung des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und psychischer Störung und Verarbeitungsmängeln wird diese Einteilung durch den Sachverständigen dem Gericht nahegebracht. Unbesehen übernommen wird diese Einteilung jedoch nicht. Der medizinische Gutachter wird nicht zum "Richter in Weiß", da zur Begründung der rechtlichen Frage des Zurechnungszusammenhangs eine rechtliche Prüfung in der Richtung vorgenommen wird, ob der Geschädigte in krankhafter Weise das Unfallgeschehen zum Anlass genommen hat, sich dauerhaft den Risiken des Erwerbslebens zu entziehen (vgl. BGH VersR 1956, 305, 306; BGH VersR 1979, 718 f.). Diese vom Reichsgericht als Ausschlussgrund für die Zurechnung von Folgeschäden abgelehnte Einschränkung (vgl. RGZ 159, 257) und auch – wie der BGH selbst in der Entscheidung konstatiert (Rn 14) von der medizinischen Wissenschaft als eigenständige Krankheit abgelehnte Annahme einer Rentenneurose, wird als weitere Ausschlussmöglichkeit der Zurechnung psychischer Folgen bezeichnet. Die ursprünglich hierfür angeführte Begründung, wonach der Ausschluss der Zurechnung die Therapiefähigkeit des Geschädigten unterstützen solle, der Geschädigte ansonsten in seiner neurotischen Vorstellung bestärkt werde und damit eine erfolgreiche Überwindung nicht möglich sei (vgl. BGH VersR 1956, 305, 306), wird trotz der Kritik an dieser Begründung (vgl. Brandt, VersR 2005, 616, 617) aufrechterhalten. Soweit der BGH zu dem von dem Schädiger zu erbringenden Nachweis des Vorliegens einer Begehrensneurose die Zuziehung eines medizinischen Gutachters für notwendig hält (Rn 15), begründet die Beauftragung des Gutachters für ihn den Konflikt, dass er eine doch immerhin schon durch die Bezeichnung als "Neurose" bezeichnete Krankheitserscheinung feststellen soll, die es nach den Erkenntnissen seiner Wissenschaft nicht gibt.

RiOLG a.D. Heinz Diehl

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge