– Zum Stand der Diskussion nach der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 –

Einführung

In der Diskussion über das Recht des Betroffenen auf Einsicht in Messunterlagen – auch wenn sich diese nicht bei der Akte befinden – sind auch nach dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020[3] und einigen seither ergangenen Folgeentscheidungen[4] etliche Fragen umstritten. So lehnen einige Oberlandesgerichte ein Recht auf Überlassung und Einsicht in bestimmte Daten weiterhin ab – insbesondere hinsichtlich der sog. Rohmessdaten vom gesamten Tattag. Dies gibt Veranlassung zu einem erneuten Blick auf den gegenwärtigen Stand der Diskussion.[5]

[3] 2 BvR 1616/18, DAR 2021, 75.
[5] Vgl. auch Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 227 ff.; Verf., DAR 2021, 377, jeweils m.w.N.

A. Ausgangslage

Nach der Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes waren im Fahreignungsregister zuletzt etwa drei Millionen Geschwindigkeitsverstöße (als Ordnungswidrigkeiten) registriert. Die praktische Bedeutung der Frage nach den Anforderungen an den Nachweis dieser Ordnungswidrigkeiten bedarf daher keiner Erläuterung.

Will man an der effektiven Verfolgung und Verfolgbarkeit dieser massenhaft auftretenden Ordnungswidrigkeiten festhalten, dann wird dies ohne eine Begrenzung der Amtsaufklärungspflicht des Bußgeldrichters (im Fall des den Verstoß bestreitenden Betroffenen) und der Anforderungen an die Darlegung im Urteil kaum möglich sein.[6] Solche Vereinfachungen lassen sich im Grundsatz auch rechtfertigen, da das Ordnungswidrigkeitenverfahren der "verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung" dient, nicht der Ahndung kriminellen Unrechts.[7]

Auf der anderen Seite kann nicht übergangen werden, dass der Staat auch im Bußgeldverfahren repressiv handelt und den Betroffenen mit durchaus erheblichen Sanktionen belegt. Bußgelder im Umfang von teils mehreren hundert EUR und Fahrverbote von mehreren Monaten wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens können nicht schlicht zur Bagatelle erklärt werden, bei deren Verhängung das Ergebnis einer staatlich veranlassten Messung vom Betroffenen schlicht hinzunehmen wäre. Denn einen Erfahrungssatz des Inhalts, dass ein Messergebnis, das unter Zuhilfenahme eines (amtlich überprüften) technischen Geräts zustande gekommen ist, stets zutreffend wäre und "die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern", gibt es nicht.[8]

[6] BVerfG, NJW 2021, 455, 457, Rn 48 m.w.N.
[7] BVerfG, NJW 2021, 455, 457, Rn 48 m.w.N.; BGHSt 39, 291.
[8] BVerfG, NJW 2021, 455, 457, Rn 42 m.w.N.; BGHSt 39, 291, 301.

B. Grundsätze des "standardisierten Messverfahrens"

Der Gesetzgeber hat sich mit der Behandlung des oben genannten Spannungsverhältnisses bisher nicht befasst (vgl. die an den Gesetzgeber gerichtete Aufforderung durch den 58. Dt. Verkehrsgerichtstag[9] ). Der Begriff des "standardisierten Messverfahrens" und die im Fall ihrer Anwendung geltenden Grundsätze wurden vielmehr insbesondere durch die Entscheidungen des BGH vom 19.8.1993[10] und vom 30.10.1997[11] entwickelt.

Danach stellt ein standardisiertes Messverfahren ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren dar, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind.[12] Ist eine Messmethode als ein solches standardisiertes Messverfahren anerkannt, so führt dies zu geringeren Anforderungen an die Beweisführung des Gerichts und an die Urteilsfeststellungen. Insbesondere muss das Gericht ohne Anhaltspunkte für eine Abweichung vom Regelfall kein Sachverständigengutachten einholen und es muss sich in den Entscheidungsgründen nicht mit den Einzelheiten der Messung auseinandersetzen.

Gegen diese von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Anwendung standardisierter Messverfahren bestehen jedenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wie das BVerfG in seinem Beschl. v. 12.11.2020 ausdrücklich ausführt.[13]

[9] Arbeitskreis IV, Empfehlungen Nr. 1, 6.
[10] BGHSt 39, 291.
[11] BGHSt 43, 277.
[12] BGHSt 43, 277.

C. Recht des Betroffenen, das Messergebnis eigeninitiativ zu hinterfragen

Aus den genannten Grundsätzen über die Anwendung standardisierter Messverfahren ergibt sich letztlich eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast des Betroffenen, wenn er den Geschwindigkeitsverstoß bestreitet.[14] Denn nur, wenn die Verteidigung konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messung darlegt, ist das Gericht verpflichtet, in eine weitere Sachaufklärung zur Richtigkeit der Messung einzutreten, namentlich ein Sachverständigengutachten zur Richtigkeit der Messung einzuholen.

Schon der BGH hat daher bereits in seinen ursprünglichen Entscheidungen zum standardisierten Messverfahren die Anwendung dieser Grundsätze gerade davon abhängig gemacht, dass es dem Betroffenen möglich bleibt, selbst Zweifel an der Richtigkeit der Messung darzulegen und im Wege des Beweisantrags in das Verfahren einzuführen: "Sein Anspru...

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