Hinweis

Nach dem Unfallablauf ist dem Kläger ein Mitverschulden nicht vorzuwerfen; die Bewertung des Verschuldens des Beklagten führt dazu, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Pkw außer Ansatz bleibt. Der Beklagte wollte nach links vor dem entgegenkommenden Kläger in die … straße abbiegen. Gemäß § 9 Abs. 3 StVO hatte er den Kläger zunächst durchfahren zu lassen. Durch die schuldhafte Nichtbeachtung dieser Vorschrift verursachte der Beklagte den Unfall. An dieser Beurteilung ändert sich nichts, wenn in Rechnung gestellt wird, dass der Kläger mit 65 km/h gefahren ist, anstelle der erlaubten 50 km/h. Dem Beklagten war zuzumuten, eine Geschwindigkeitsüberschreitung in diesem Umfange zu berücksichtigen (vgl. BGH NJW 1984, 1962). Zwar gibt es keine allgemeinen Richtwerte dahin gehend, welche Geschwindigkeitsüberschreitungen des Bevorrechtigten der Wartepflichtige in zumutbarer Weise berücksichtigen muss; denn diese müssen unter Berücksichtigung vernünftiger Verkehrsauffassung für den konkreten Fall erst ermittelt werden. Gerade Letzteres führt aber dazu, dass der Beklagte hier eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 30 % berücksichtigen musste: Der Kläger fuhr auf einer im weiteren Unfallbereich übersichtlichen Hauptstraße zu verkehrsarmer Zeit. Die Sichtverhältnisse waren weder witterungsbedingt noch aus anderen konkreten Gründen eingeschränkt. Unter diesen Umständen konnte eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 30 % kein Anlass für Irritationen des Beklagten sein, er hatte sie als Wartepflichtiger zu tolerieren. Der Beklagte durfte nach alledem keinesfalls nach links in die … straße einbiegen, bevor er den Kläger hatte durchfahren lassen. Dem Kläger ist kein Mitverschulden vorzuwerfen. Zwar ist nachgewiesen, dass er 65 km/h gefahren ist und dadurch eine Geschwindigkeitsübertretung begangen hat. Durch dieses verkehrswidrige Verhalten hat er aber sein Vorrecht gegenüber dem Beklagten nicht verloren. Er hat in dieser konkreten Verkehrssituation darauf vertrauen dürfen, dass der Beklagte seiner Wartepflicht genügen wird. Das Verschulden des Beklagten ist so beachtlich, dass es gerechtfertigt ist, die Betriebsgefahr des klägerischen Pkw außer Ansatz zu lassen. Insoweit handelt es sich zwar um einen Grenzfall, doch liegt er noch innerhalb der Rechtsprechung zu vergleichbaren Fällen und gibt keinen Anlass, von dieser als richtig erachteten Rechtsprechung abzuweichen. Im Übrigen wird in Abrede gestellt, dass der Verkehrsunfall für den Kläger bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre.

 

Erläuterung:

Mit leichten Geschwindigkeitsüberschreitungen muss der Wartepflichtige stets rechnen, unter Umständen sogar mit erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl. zu § 8 StVO Rn 53 und die dort zitierte Rechtsprechung). So kam der BGH (NJW 1984, 1962) bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 100 % noch immer zu einem Mitverschuldensanteil des Wartepflichtigen von ⅓. Hierbei spielen besonders Fragen der Erkennbarkeit des Vorfahrtsberechtigten für den Wartepflichtigen eine wichtige Rolle. Um überhaupt dem Vorfahrtsberechtigten einen Verschuldenseinwand entgegenhalten zu können, ist neben dem Nachweis der Geschwindigkeitsüberschreitung noch der Nachweis erforderlich, dass bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Gerade die Erforderlichkeit der Kausalität des Verschuldensvorwurfs für das Unfallereignis wird schnell übersehen.

Bei der Suche einer Haftungsquote ist neben der Beachtung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls aber auch das Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung bedeutungsvoll. Eine 50 %-ige Geschwindigkeitsüberschreitung bei zulässigen 30km/h – also 15km/h – wird weniger Gewicht haben müssen, als eine solche bei zulässigen 100km/h – also 50km/h. Dies zeigt schon die Wertung des Gesetzgebers im Rahmen des Bußgeldkatalogs. Während bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 15 km/h ein geringes Verwarngeld vorgesehen ist, ist bei 50km/h Überschreitung im Regefall ein Fahrverbot anzunehmen. Hier sieht der Gesetzgeber also ein erheblich unterschiedliches Maß an Fehlverhalten, welches einem Vorfahrtberechtigten vorgeworfen werden kann. Dies muss sich dann auch bei der Haftungsabwägung mit dem Verschulden des Wartepflichtigen gem. § 17 StVG auswirken. Eine Orientierung an Prozenten der Überschreitung halte ich daher für falsch.

Autor: Christian Janeczek

RA Christian Janeczek, FA für Verkehrsrecht und

für Strafrecht, Dresden

zfs 8/2013, S. 423

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