StPO § 147 § 338 Nr. 8

Leitsatz

Die nicht gewährte Einsicht in die nicht bei den Akten befindliche Aufbauanleitung des Messgeräts durch das Amtsgericht ist mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar und mit der bisherigen Rechtsprechung der anderen Obergerichte nicht vereinbar (KG, Beschl. v. 7.1.2013 – 3 Ws (B) 596/12; OLG Naumburg, Beschl. v. 5.11.2012 – 2 Ss (Bz) 100/12; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 12.1.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17). Der Senat schließt sich nach erneuter Bewertung der Sach- und Rechtslage, insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, der Rechtsauffassung der vorbenannten Entscheidungen ausdrücklich an.

OLG Koblenz, Beschl. v. 20.5.2020 – 2 OWi 6 SsRs 118/19

Sachverhalt

Der Betr. wurde durch das AG wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h mit einer Geldbuße von 120 EUR belegt. Im Hauptverhandlungstermin vor dem AG hatte die Verteidigerin des Betr. unter anderem beantragt, ihr die Statistikdatei, die Case-List, die Instandsetzungs-, Wartungs- und Eichunterlagen sowie die Aufbau- und Einbauvorschriften zum Messgerät Vitronic Poliscan FM1 im Enforcement Trailer zugänglich zu machen. Zudem beantragte sie, das Verfahren bis zur Einholung dieser Unterlagen auszusetzen.

Beide Anträge wurden durch das Gericht abgelehnt. Den daraufhin gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Fehlerhaftigkeit der Messung lehnte das AG unter Verweis auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ebenfalls durch Beschluss ab.

Gegen dieses Urteil wendete sich der Betr. mit seinem form- und fristgerecht angebrachten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Mit Beschl. v. 6.6.2019 verwarf das OLG den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Nach der bisherigen Rspr. des OLG Koblenz war der Tatrichter ohne konkrete Anhaltspunkte für Messfehler nicht gehalten, Anträgen der Verteidigung auf Beiziehung der digitalen Messreihe und sonstiger Unterlagen nachzugehen, wenn der Messung wie hier ein standardisiertes Messverfahren zugrunde lag. Gegen diesen Beschluss hat der Betr. Verfassungsbeschwerde zum VGH Rheinland-Pfalz erhoben. Der VGH Rheinland-Pfalz hat in seiner Entscheidung vom 15.1.2020 (VGH B 19/19; [NZV 2020, 92 m. Anm. Krenberger]) festgestellt, dass der Beschl. v. 6.6.2019 den Beschwerdeführer in seinen Rechten auf effektiven Rechtsschutz sowie den Grundsatz des gesetzlichen Richters verletzt hat. Zur Begründung hat der VGH ausgeführt (UA S. 13 ff.), die Rechtsbeschwerde des Betr. sei zumindest mit Blick auf die entgegenstehende Rspr. anderer Obergerichte zur Frage des Rechts auf Einsichtnahme in nicht bei den Akten befindlicher Bedienungsanleitungen eines Messgeräts – die Aufbauanleitung eines Messgerätes steht insofern der Bedienungsanleitung gleich – zuzulassen gewesen.

Das OLG Koblenz hat die Rechtsbeschwerde des Betr. zugelassen (§§ 79 Abs. 1 S. 2, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG), alsdann das Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

2 Aus den Gründen:

"… II. Nach dem Urteil des VGH Rheinland-Pfalz, das den Beschl. des Senats v. 6.6.2019 gem. § 49 Abs. 3 VerfGHG aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverweisen hat, war der Senat zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Betr. auf Zulassung der Rechtsbeschwerde berufen."

Der zulässige, insb. fristgerecht eingereichte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, gegen das Urteil des AG Wittlich vom 4.2.2020 hat in der Sache nunmehr im Lichte der Entscheidung des VGH Rheinland-Pfalz Erfolg.

Wie die Urteilsausführungen des VGH erkennen lassen, ist die nicht gewährte Einsicht in die nicht bei den Akten befindliche Aufbauanleitung des Messgeräts durch das AG Wittlich mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar und mit der bisherigen Rspr. der anderen Obergerichte nicht vereinbar (KG 3 Ws (B) 596/12 v. 7.1.2013, OLG Naumburg 2 Ss (Bz) 100/12 v. 5.11.2012, OLG Karlsruhe 2 Rb 8 Ss 839/17 v. 12.1.2018). Der Senat schließt sich nach erneuter Bewertung der Sach- und Rechtslage, insb. unter Berücksichtigung der Entscheidung des VGH Rheinland-Pfalz, der Rechtsauffassung der vorbenannten Entscheidungen ausdrücklich an.

Folgerichtig war das Urteil des AG Wittlich mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens an das AG Wittlich zurückzuverweisen. Spätestens auf einen entsprechenden Antrag hin wäre das Gericht daher gehalten, die Aufbauanleitung für den Einbau des Messgeräts Vitronic Poliscan FM1 in einen Enforcement Trailer bei der zentralen Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.

Mit der Entscheidung des OLG Frankfurt (2 Ss OWi 173/13 v. 12.4.2013) liegt, wie die GenStA im Votum vom 16.3.2020 ausgeführt hat, keine dieser einheitlichen Rspr. der vorgenannten Oberlandesgerichte widersprechende Entscheidung vor, da in dem genannten Beschluss die Frage nach dem Einsichtsrecht nach nicht bei der Akte befindlicher Dokum...

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