1. Gemäß Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.

2. Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit dem Schutz der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und in diesem Zusammenhang betroffenen Rechten Dritter, ist – wie auch sonst – eine Abwägung der betroffenen Positionen zur Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich.

3. Auch Bundesfernstraßen sind, obwohl sie von ihrem eingeschränkten Widmungszweck her anders als andere öffentliche Verkehrsflächen nicht der Kommunikation dienen, sondern ausschließlich dem Fahrzeugverkehr, nicht generell ein "versammlungsfreier Raum". Zwar darf hier den Verkehrsinteressen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Anforderungen nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG erhebliche Bedeutung beigemessen werden. Die Einstufung einer Straße als BAB oder Bundesstraße entscheidet allerdings nicht darüber, ob auf dieser Straße grundsätzlich eine Versammlung stattfinden darf und entbindet Versammlungsbehörden und Gerichte nicht von einer Güterabwägung. Sie entfaltet allenfalls Indizwirkung für das Gewicht der gegen eine Versammlung sprechenden Interessen der Öffentlichkeit oder Dritter (vgl. BayVGH, Beschl. v. 7.9.2021 – 10 CS 21.2282 – juris Rn 33; Beschl. v. 4.6.2021 – 10 CS 21.1590 – juris Rn 21; HessVGH, Beschl. v. 5.6.2021 – 1 B 1193/21 – juris Rn 4, jew. m.w.N.; VG Frankfurt, Beschl. v. 21.1.2022 – 5 L 148/22.F – juris Rn 10).

4. Versammlungen auf der Autobahn können grundsätzlich nicht allein unter Hinweis auf die dann zwangsläufig für die BAB eintretenden Folgen untersagt werden, weil anderenfalls letztlich ein absolutes Verbot der Nutzung der Autobahnen für Versammlungszwecke statuiert würde (vgl. HessVGH, Beschl. v. 4.12.2020 – 2 B 3007/20 – juris Rn 20).

5. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit dürfen beim Erlass von versammlungsrechtlichen Beschränkungen oder eines Versammlungsverbots keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose gestellt werden. Sie ist auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.6.2007 – 1 BvR 1423/07 – juris Rn 17). Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.2010 – 1 BvR 2636/04 – juris Rn 17; BayVGH, Beschl. v. 6.6.2015 – 10 CS 15.1210 – juris Rn 22; Urt. v. 10.7.2018 – 10 B 17.1996 – juris Rn 26; BVerwG, Beschl. v. 24.8.2020 – 6 B 18.20 – juris Rn 6). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Beschränkung liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn 17; Beschl. v. 12.5.2010 – 1 BvR 2636/04 – juris Rn 19 jeweils m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 19.12.2017 – 10 C 17.2156 – juris Rn 16 m.w.N.). Gibt es neben Anhaltspunkten für die von der Behörde oder den Gerichten zugrunde gelegte Gefahrenprognose auch Gegenindizien, so haben sich die Behörde und die Gerichte auch mit diesen in einer den Grundrechtsschutz hinreichend berücksichtigenden Weise auseinanderzusetzen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.9.2009 – 1 BvR 2147/09 – juris Rn 9 m.w.N.).

6. Letztendlich darf die Gefahrenprognose kohärente Erwägungen nicht vermissen lassen, aufgrund derer sich nachvollziehbar ergibt, dass sich negative Auswirkungen der Versammlung auf das nachgeordnete Straßennetz auch durch ein vorausschauendes Verkehrslenkungs- und Sicherheitskonzept, bezogen auf die konkreten örtlichen Verhältnisse und die konkret zu erwartenden Betroffenen, weder vermeiden noch maßgeblich vermindern ließen. (Leitsätze der Schriftleitung)

BayVGH, Beschl. v. 24.3.2023 – 10 CS 23.575

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