Man sollte grundsätzliche Änderungen seiner Rechtsprechung nicht in Hinweise verpacken, die dazu dienen, der Partei klar zu machen, dass ihr Rechtsmittel "offensichtlich" keine Aussicht auf Erfolg hat, § 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO. Denn wenn es schon einer Änderung der Rechtsprechung bedarf, um zu dem Urteil zu gelangen, dass das Rechtsmittel unbegründet ist, so kann das für die Partei keinesfalls "offensichtlich" sein.

Noch weniger kann ein solches prozessuales Vorgehen überzeugen, wenn die Korrektur des eigenen Standpunkts durchaus fragwürdig und in Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Gerichte zu treten scheint. Denn das Urteil des BGH, auf das der Senat sich hier stützt (Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098) und das immerhin schon sechs Jahre in der Welt ist, behandelt keine Kollision im fließenden Verkehr, sondern einen Parkplatzunfall. Ein Parkplatzunfall aber lag dem hier zur Entscheidung liegenden Falle nicht zugrunde.

Auf Parkplätzen gilt nach BGH ein besonderer Sorgfaltsmaßstab. Hier ist jeder Verkehrsteilnehmer zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet, was auch bedeutet, dass er in der Lage sein muss, sein Fahrzeug jederzeit vor einem Hindernis zum Stehen zu bringen. Das ist der Grund, warum der Anscheinsbeweis nicht greift, wenn nach einer Kollision auf einem Parkplatzgelände nicht ausgeschlossen werden kann, dass der beteiligte Rückwärtsfahrer sein Fahrzeug noch vor dem Zusammenstoß zum Stehen gebracht hat. Denn in diesem Falle besteht die Möglichkeit, dass er jedenfalls das Notwendige getan und der andere Verkehrsteilnehmer für die Kollision verantwortlich ist. Einen Erfahrungssatz, der besagt, dass den Rückwärtsfahrer auch in einem solchen Fall nicht die gebotene Sorgfalt beachtet haben muss, gibt es jedenfalls nicht.

Bei Kollisionen mit dem fließenden Verkehr ist das anders. Hier kann aus der Tatsache, dass der Rückwärts-Fahrende sein Fahrzeug noch kurz vor dem Zusammenstoß zum Stehen gebracht hat, nicht gefolgert werden, dass er den hohen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO gerecht geworden ist. Denn der fließende Verkehr muss nicht so fahren, dass er sein Fahrzeug jederzeit vor einem Hindernis zum Stehen bringen kann. Vielmehr darf er darauf vertrauen, dass niemand mit seinem Fahrzeug seinen Fahrweg quert oder beeinträchtigt. Ob es dem Störer dann noch gelingt, sein Fahrzeug vor der Kollision zum Stehen zu bringen, spielt keine Rolle. Auch wenn dies festgestellt werden kann, so spricht doch alles dafür, dass sein Fahrmanöver unfallursächlich war und er den Vorrang des fließenden Verkehrs nicht beachtet, zumindest dessen Gefährdung nicht ausgeschlossen hat. Daher ist es richtig, wenn die Rechtsprechung hier den Anscheinsbeweis auch zur Anwendung bringt, wenn sich die Kollision nur in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Rückwärtsfahrt ereignet hat. Und es wäre sinnwidrig, wollte man den Rückwärtsfahrer bereits dann entlasten, wenn festgestellt werden kann, dass sein Fahrzeug unmittelbar vor der Kollision noch zum Stehen gekommen ist.

Tatsächlich lag dem OLG Hamm weder der eine noch der andere Fall zur Entscheidung vor. Vielmehr hatte der 9. Zivilsenat über eine Konstellation zu entscheiden, die für die Anwendung des Anscheinsbeweises überhaupt nicht taugt. Denn hier ging es weder um einen Unfall auf einem Parkplatz noch war ein Rückwärtsfahrer mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs kollidiert. Vielmehr hatten sich zwei Fahrzeuge, nämlich ein Pkw nach der Rückwärtsfahrt von einem Privatparkplatz sowie ein Traktor rückwärtsfahrend aus einer schräg gegenüberliegenden Grundstückszufahrt kommend, auf der Fahrbahn getroffen. Das ist eine untypische Konstellation, der mit der Lebenserfahrung nicht beizukommen ist, sondern die eine sorgfältige Würdigung der unstreitigen Tatsachen und Beweisergebnisse auf der Grundlage des § 286 ZPO erfordert. Für Klarstellungen zur Reichweite des Anscheinsbeweises besteht hier überhaupt keine Notwendigkeit, noch weniger für Klarstellungen, die in ihrer Allgemeinheit den Eindruck erwecken, als wolle der Senat die Rechtsprechung des BGH zu den Parkplatzunfällen nun unbesehen auch auf Kollisionen im fließenden Verkehr erstrecken. Man kann, was den Leitsatz 1 angeht, nur hoffen, dass der 9. Zivilsenat des OLG Hamm sich nicht selbst beim Wort nimmt.

Dr. Hans-Joseph Scholten, RA und Mediator, VRiOLG a.D.

zfs 5/2022, S. 250 - 252

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