StVO § 1 Abs. 2 § 8 Abs. 1 S. 1; StVG § 7 Abs. 1 § 17 Abs. 1; ZPO § 286

Leitsatz

Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO ("rechts vor links") findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt. (Rn.15)

BGH, Urt. v. 22.11.2022 – VI ZR 344/21

1 Sachverhalt

[1] Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall am 15.8.2018 auf dem Parkplatz eines Baumarkts geltend. Die durch markierte Parkbuchten gekennzeichneten Parkflächen des Parkplatzes waren durch sich teilweise kreuzende, durch ihre Pflasterung nicht von den Parkbuchten abgehobene Fahrspuren erschlossen. Eine Beschilderung zur Regelung der Vorfahrt oder Fahrbahnmarkierungen (mit Ausnahme der Markierungen der Parkbuchten) existierten nicht.

[2] Zum Unfallzeitpunkt befuhr der Kläger mit seinem Pkw eine zwischen den Parkflächen befindliche Fahrgasse, der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw aus Sicht des Klägers von links kommend eine diese Gasse kreuzende Fahrspur. Die wechselseitigen Blickfelder des Klägers und des Beklagten zu 1 waren dabei durch einen parkenden Sattelzug erheblich eingeschränkt. Im Kreuzungsbereich kam es zum Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge.

[3] Die Beklagte zu 2 regulierte den klägerischen Schaden unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 %. Mit seiner Klage begehrt der Kläger von den Beklagten als Gesamtschuldner den Ausgleich auch seines restlichen Schadens nach einer Quote von 100 %.

[4] Das Amtsgericht hat der Klage unter Annahme einer Haftungsquote von 70 % zu 30 % zu Lasten der Beklagten teilweise stattgegeben. Die Berufung des Klägers ist vor dem Landgericht ohne Erfolg geblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

2 Aus den Gründen:

[5] I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner in juris (Az. 14 S 136/20) veröffentlichten Entscheidung ausgeführt, der Kläger könne von den Beklagten keine weitergehenden Zahlungen verlangen. Die vom Amtsgericht zugrunde gelegte Haftungsquote sei nicht zu beanstanden, eine darüberhinausgehende Quote zugunsten des Klägers komme nicht in Betracht.

[6] Vorliegend hänge gemäß § 17 Abs. 1 StVG der Umfang der Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sei. In dem hier zu beurteilenden Fall sei zu Lasten des Beklagten zu 1 wegen seiner nicht an die konkrete Verkehrssituation angepassten Fahrgeschwindigkeit ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO, nicht hingegen, wie der Kläger meine, ein Verstoß gegen § 8 StVO festzustellen. Zwar gelte die Straßenverkehrsordnung grundsätzlich auch auf privaten Parkplätzen, wenn diese – wie hier – für die Allgemeinheit zugänglich gemacht worden seien. Eine direkte Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO ("An Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts kommt") komme jedoch nicht in Betracht. Denn bei den sich hier treffenden Fahrgassen auf dem privaten Parkplatzgelände handele es sich nicht um eine "Kreuzung" im Sinne der StVO. Eine Kreuzung liege vor, wenn "zwei Straßen" sich schnitten, so dass sich jede von ihnen über den Schnittpunkt hinaus fortsetze. Eine "Straße" im Sinne des § 8 StVO liege dabei nur bei Fahrbahnen vor, die dem fließenden Verkehr dienten, d.h. einem Verkehr, bei dem es den Teilnehmern auf ein möglichst ungehindertes Vorwärtskommen, auf ein zügiges Zurücklegen einer Strecke ankomme. Nach gängiger Rechtsprechung komme es insoweit auf die baulichen Besonderheiten des Einzelfalls an. Entscheidende Merkmale für das Vorliegen einer Straße seien etwa Markierungen auf der Fahrbahn, Bordsteine oder das Fehlen von Parkboxen entlang der Fahrbahn.

[7] Es könne dahinstehen, ob es sich bei der von dem Beklagten zu 1 genutzten Fahrspur um eine Straße im obigen Sinne gehandelt habe. Denn jedenfalls bei der von dem Kläger selbst genutzten Fahrspur habe es sich in keinem Fall um eine Straße im obigen Sinne gehandelt, sondern um einen Fahrbereich, der nach der baulichen Beschaffenheit ausschließlich der Parkplatzsuche und dem Rangieren gedient habe, so dass insgesamt keine aus zwei sich treffenden Straßen gebildete "Kreuzung" im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO vorgelegen habe. Es gebe auch weder eine tragfähige Begründung für eine analoge Anwendung von § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf die streitgegenständliche Verkehrssituation noch Veranlassung, die Vorfahrtsregelung "rechts vor links" als Teil der Generalklausel des § 1 Abs. 2 StVO Anwendung finden zu lassen. Denn ein derartiges "Hineinlesen" der Regelung "rechts vor links" in die Generalklausel des § 1 Abs. 2 StVO setze zumindest voraus, dass eine bauliche Verkehrssituation vorliege, in der bei objektiver Betrachtung jeder verständige Verkehrsteilnehmer zu der Ansicht kommen müsse, dass in ...

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