VVG § 22; BGB § 123

Leitsatz

Der Versicherer kann einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung auch dann wegen arglistiger Täuschung anfechten, wenn der Versicherungsnehmer die – auch mündlich gestellte – Frage nach der Einnahme von Drogen, drogenähnlichen Substanzen oder Betäubungsmitteln falsch beantwortet, um zu verhindern, dass eine Angehörige von diesem Konsum erfährt.

(Leitsatz der Schriftleitung)

OLG Hamm, Beschl. v. 29.7.2019 – 20 U 82/19

Sachverhalt

Im April 2011 beantragte der Kl., der von Beruf Maschinen- und Anlagenführer ist, den Abschluss des Vertrages. In dem Antragsformular wurde unter Nr. 2a) folgende Frage gestellt, zu der die Antwort "nein" angekreuzt ist: "2.a) Konsumieren oder konsumierten Sie in den letzten 10 Jahren Drogen, drogenähnliche Substanzen oder Betäubungsmittel?" Tatsächlich hatte der Kl. allerdings schon über einen Zeitraum von etlichen Jahren gelegentlich Amphetamine konsumiert; im Jahre 2007 war ihm wegen dieses Konsums die Fahrerlaubnis vorübergehend entzogen worden. Die Bekl. nahm den Antrag an.

Im August 2015 beantragte der Kl. Leistungen bei der Bekl., weil er aufgrund einer bipolaren affektiven Psychose und depressiver Phasen seit Januar 2015 berufsunfähig sei. Die Bekl. trat in die Leistungsprüfung ein und erklärte mit Schreiben vom 18.3.2016 die Anfechtung ihrer auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung sowie den Rücktritt vom Vertrag, weil der Kl. verschiedene Vorerkrankungen nicht angegeben habe.

Der Kl. ist der Auffassung, die Bekl. könne ihre Anfechtung nicht auf eine falsche Beantwortung der Frage Nr. 2a im Antragsformular stützen, weil diese Frage unklar formuliert und deshalb vom Kl. nicht falsch beantwortet worden sei. Es sei nämlich überhaupt nicht klar, was unter "Drogen, drogenähnlichen Substanzen und Betäubungsmitteln" im Einzelnen zu verstehen sei.

2 Aus den Gründen:

"…"

Das LG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

1. Der Kl. kann nicht die Feststellung verlangen, dass der zwischen den Parteien ursprünglich geschlossene Versicherungsvertrag fortbesteht. Denn dieser ist durch die seitens der Bekl. im Prozess durch Schriftsatz vom 6.9.2018 erklärte (weitere) Anfechtung gem. § 142 Abs. 1 BGB rückwirkend nichtig geworden. Das Recht des Versicherers, den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten, bleibt gem. § 22 VVG von den Regelungen in §§ 19 ff. VVG zu den vorvertraglichen Anzeigepflichten unberührt.

a) Es besteht ein Anfechtungsgrund.

aa) In objektiver Hinsicht liegt eine Täuschung über Tatsachen vor. Die Antragsfrage 2a lautete:

“Konsumieren oder konsumierten Sie in den letzten 10 Jahren Drogen, drogenähnliche Substanzen oder Betäubungsmittel?'

Diese Frage beantwortete der Kl. falsch mit “nein', worin eine Täuschung i.S.v. § 123 Abs. 1 BGB lag.

(1) Auch das Verschweigen von Umständen kann eine Täuschung darstellen, wenn eine Rechtspflicht zur Aufklärung besteht (…). Eine solche Aufklärungspflicht besteht jedenfalls immer dann, wenn der andere Teil nach gewissen Umständen ausdrücklich fragt; solche Fragen müssen vollständig und richtig beantwortet werden (BGHZ 74, 383).

Entgegen dem Vorbringen des Kl. ist die Frage weder “intransparent' noch sonst unzulässig. Es mag im Einzelfall Substanzen geben, bei denen fraglich sein kann, ob es sich um “drogenähnliche Substanzen' handelt und ob die gestellte Frage eine Aufklärungspflicht bewirkt, ihren Konsum anzugeben. Dies muss der Senat aber hier nicht abschließend entscheiden. Denn jedenfalls bei Amphetamin handelt es sich anerkanntermaßen sowohl in rechtlicher Hinsicht (vgl. Anl. III zu § 1 Abs. 1 BtMG) als auch nach dem allgemeinen, für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbaren Sprachgebrauch um ein Betäubungsmittel i.S.d. Frage. Sonstige Gründe, warum eine solche Frage nicht zulässigerweise gestellt werden dürfte (vgl. zur fehlenden Anfechtungsmöglichkeit bei unzulässigen Fragen z.B. OLG Köln VersR 1992, 1252), sind nicht ersichtlich.

Der Vortrag des Kl. in seinem Schriftsatz vom 16.7.2019, mit dem er zum Hinweisbeschluss des Senats vom 28.6.2019 Stellung genommen hat, führt zu keiner anderen Beurteilung. Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Anfechtungsmöglichkeit nach § 22 VVG i.V.m. § 123 Abs. 1 BGB nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Täuschung eine Frage des Versicherers in Textform vorausgegangen ist. § 22 VVG ordnet an, dass das Recht des Versicherers aus §§ 123 ff. BGB “unberührt' bleibt. Deshalb kann unabhängig von der Frage, ob und in welchen Fällen auch ganz ohne eine Frage des Versicherers eine spontane Anzeigepflicht besteht, jedenfalls die falsche Beantwortung einer mündlich gestellten Frage eine Anfechtung gem. §§ 22 VVG, 123 Abs. 1 BGB rechtfertigen (vgl. nur Müller-Frank, in: Langheid/Wandt, VVG, Band 1, 2. Aufl. 2016, § 22 Rn 9, m.w.N.; vgl. auch BGH VersR 2018, 85; …). Der Vortrag des Kl., die Antragsfrage sei ihm nur mündlich gestellt worden, ist deshalb für die vorlegend zu beurteilende Frage ebenso belanglos wie seine weitere Behauptung, er habe den Antrag unterschrieben, ohne sehen zu können, was ge...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge