Das Bemühen, die Interpretation der Porscheentscheidung durch die Versicherer mittels rechtswissenschaftlicher Argumentation zu widerlegen, ehrt die Verfasser[5] und vermag die Instanzgerichte in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Für die außergerichtliche Regulierung nützt es indes nichts, weil es nicht um eine wissenschaftliche Streitfrage geht. Statt um Rechtswahrheit geht es der Versicherungswirtschaft ausschließlich um wirtschaftliche Interessen. Der anwaltliche Vertreter des Geschädigten ist es gewohnt, dass selbst zwingende Argumente den Sachbearbeiter des Versicherers nicht überzeugen können, weil ihn bestimmte Weisungen seiner Vorgesetzten daran hindern. Ihm begegnet dieses Problem aktuell z.B. im Bereich der Sachverständigengebühren, der Verbringungskosten, der UPE-Aufschläge, der Wertminderung und der Anwaltsgebühren.

Der nicht anwaltlich vertretene Geschädigte wird sogar mit Kürzungen konfrontiert, die jedweder rechtlichen Grundlage entbehren. Beispielsweise wird bei Einreichung eines Reparaturkostenvoranschlags der Nettobetrag noch um 30 % gekürzt mit dem Hinweis, sofern der Anspruchssteller sein Fahrzeug tatsächlich reparieren lasse, sei man zu gegebener Zeit nach Vorlage einer Reparaturkostenrechnung gern bereit, eine erneute Überprüfung des geltend gemachten Anspruchs vorzunehmen. Bei nachträglicher Inanspruchnahme der Kaskoversicherung wird die bereits geleistete Zahlung des Unfallgegners häufig einfach von der vertraglich vereinbarten Kaskoleistung abgezogen, ohne hierbei das Quotenvorrecht des Versicherungsnehmers zu beachten.[6]

Dem Steuerrechtler ist dieses Phänomen als sog. "Nichtanwendungserlass" bekannt. Hinsichtlich einer dem Fiskus nachteiligen Entscheidung wird der Finanzbeamte per Erlass angewiesen, dass ein bestimmtes Urteil des Bundesfinanzhofs über den dort entschiedenen Fall hinaus nicht anzuwenden sei. Dieser Erlass kann Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe zur Folge haben, weil der unkundige Steuerpflichtige sich nicht gegen entsprechende Bescheide wehrt.

Das Pendant hierzu kann im Bereich der Schadensversicherer die "Nichtanwendungsanweisung" (z.B. BGH-Rechtsprechung zu Sachverständigenkosten) oder die Fehlinterpretationsanweisung (Porsche-Urteil) genannt werden. Jede Fehlinterpretation einer höchstrichterlichen Entscheidung im Bereich des Kfz-Haftpflichtrechts und jedes beharrliche Vertreten einer Mindermeinung unter Angabe vereinzelter amtsgerichtlicher Urteile führt dazu, dass über Jahre hinweg Schadensaufwendungen in Milliardenhöhe erspart werden. Intensives "Schadensmanagement" seitens der Versicherer hat bewirkt, dass allenfalls 5–10 % aller Schadensfälle anwaltlich begleitet werden. Der langjährige Druck auf Sachverständige hat zur Folge, dass sich in manchen Regionen öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige weigern, eine Restwertermittlung nach den Vorgaben der BGH-Rechtsprechung durchzuführen. Amts- und Landgerichte, die keine spezialisierten Abteilungen oder Kammern haben und sich nur gelegentlich mit verkehrsrechtlichen Fragen befassen, erkennen die Zusammenhänge zwischen bestimmten Sachverständigenorganisationen und der Versicherungswirtschaft manchmal nicht. Die Bitte eines Rechtsanwalts, die eine oder andere Organisation nicht mit der Begutachtung zu beauftragen, wird gar als Angriff auf die richterliche Entscheidungsfreiheit angesehen.

Die geschilderte aktuelle Situation und die Tatsache, dass es de lege lata nicht strafbar ist, einen Schadensfall falsch zu regulieren, führt immer wieder dazu, dass höchstrichterliche Entscheidungen zu Lasten des Geschädigten negiert werden. Anders als beim Personenschaden, wo eine sachfremde und treuwidrige Regulierung eines Schmerzensgeldanspruchs unter Ausnutzung überlegenen Wissens und einer wirtschaftlichen Machtposition über die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes zu einer Erhöhung des Anspruch führen kann, fehlt diese Möglichkeit im Sachschadensbereich. Zur Zeit fehlen die rechtlichen Mittel, einer solchen treuwidrigen Regulierungspraxis wirksam Einhalt zu gebieten. Intensives Schadensmanagement seitens der Versicherer und die Angst des Geschädigten vor Anwaltskosten (die er in der Regel nicht zu tragen hat) führen dazu, dass sich immer weniger Geschädigte nach einem Verkehrsunfall der Hilfe eines Rechtsanwalts bedienen. Das deutliche rauere Klima in der Schadenregulierung hat zwar zu einer stärkeren Positionierung der Anwaltschaft – zum Beispiel in der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein – und zur Bildung von Anwaltsnetzwerken[7] geführt. Der Finanzmacht und der Lobby der Versicherungswirtschaft hat der Geschädigte aber zur Zeit nicht viel entgegenzusetzen.

In der jüngeren Rechtsprechung scheint sich wieder eine Tendenz zur Beachtung der tragenden Gründe der Porscheentscheidung abzuzeichnen.[8] Angesichts der Klarheit des BGH-Urteils sollte sich der Begründungsaufwand einer instanzgerichtlichen Entscheidung in Grenzen halten. Für den anwaltlichen Vertreter kann es sich aber empfe...

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