StVG § 7 § 17; StVO § 1 Abs. 2 § 8

Leitsatz

Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Wartepflichtige darauf vertrauen darf, dass der Vorfahrtsberechtigte mit eingeschaltetem Fahrtrichtungsanzeiger abbiegen wird.

LG Saarbrücken, Urt. v. 3.7.2015 – 13 S 64/15

Sachverhalt

Der Kl. macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend. Die Bekl. zu 1) bog mit dem bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Kfz aus einer übergeordneten Straße in die bevorrechtigte Straße ab. Sie kollidierte mit dem auf der bevorrechtigten Straße fahrenden Fahrzeug des Kl., das nach rechts blinkte, jedoch nicht abbog, sondern auf der bevorrechtigten Straße weiterfuhr. Das AG hat unter Ansetzung einer Mithaftungsquote des Kl. von 30 % die Bekl. zur Ausgleichung der von dem Kl. geltend gemachten materiellen Unfallschäden verurteilt. Die Berufung der Bekl. zur Zahlung des von dem AG abgewiesenen Klagebetrags hatte weit überwiegend keinen Erfolg.

2 Aus den Gründen:

"… 1. Das Erstgericht hat in der Sache zunächst angenommen, sowohl der Kl. als auch die Bekl. hafteten für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. § 7 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG), weil der Unfallschaden bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sei, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen sei und für keinen der Unfallbeteiligten ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG dargestellt habe. Das ist zutreffend. Entgegen dem Berufungsangriff hat das Erstgericht die Erhebung angebotener Beweise zur Unabwendbarkeit des Unfalls für die Zeugin (…) nicht in verfahrensfehlerhafter Weise übergangen. Unabhängig davon, ob die Zeugin (…) noch rechtzeitig hätte bremsen oder ausweichen können, war der Unfall für sie schon deshalb kein unabwendbares Ereignis, weil sie den Fahrtrichtungsanzeiger in irreführender Weise gesetzt hatte. Damit hat sie den Anforderungen an einen “Idealfahrer' (vgl. dazu BGHZ 117, 337; Urt. v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, VersR 1987, 158, 159 m.w.N.; BGHZ 113, 164, 165) nicht genügt."

2. Im Rahmen der danach gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das Erstgericht zu Lasten des Kl. einen Verkehrsverstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO in die Haftungsabwägung eingestellt, weil die Zeugin (…) den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, obwohl sie nicht rechts abbiegen wollte. Dies ist zutreffend und wird von der Berufung nicht angegriffen.

3. Zu Lasten der Bekl. hat das Erstgericht eine Verletzung der Vorfahrt nach § 8 StVO in die Haftungsabwägung eingestellt. Auch dies ist zutreffend. Die Zeugin (…) hat ihre Vorfahrt durch das Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers nicht verloren.

a) Nach einer Auffassung kann das Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers durch den Vorfahrtsberechtigten dessen Vorfahrtsrecht generell nicht aufheben, sondern allenfalls ein Vertrauen des Wartepflichtigen begründen, das im Rahmen der konkreten Abwägung der Mitverursachungs- und -verschuldensanteile zu berücksichtigen ist (so dezidiert KG DAR 1990, 142; wohl auch OLG München DAR 1998, 474).

b) Nach anderer Auffassung ist ein berechtigtes Vertrauen des Wartepflichtigen in die Abbiegeabsicht des Vorfahrtsberechtigten grds. geeignet, eine Vorfahrtsverletzung entfallen zu lassen (so Saarländisches OLG NJW-RR 2008, 1611; wohl auch OLG Hamm NJW-RR 2003, 975 f.). Aber auch nach dieser Auffassung kann ein Vorfahrtsverstoß hier nicht verneint werden, weil die Erstbeklagte vorliegend nicht auf einen Vorfahrtsverzicht der Zeugin (…) vertrauen durfte.

aa) Allerdings ist im Einzelnen umstritten, ob der nach § 8 StVO Wartepflichtige auf ein angekündigtes Abbiegen des Vorfahrtsberechtigten bereits dann vertrauen darf, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte die Abbiegeabsicht in Zweifel ziehen (vgl. OLG München DAR 1998, 474; KG DAR 1990, 142; Henschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 8 StVO Rn 54; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 8 StVO Rn 63), oder ob der Wartepflichtige trotz eingeschalteter rechter Blinkleuchte des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs nur dann auf dessen Abbiegen vertrauen darf, wenn sich dieses in der Gesamtschau der Fahrsituation – sei es durch eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit, sei es durch den Beginn des Abbiegens selber – zweifelsfrei manifestiert (vgl. Saarländisches OLG NJW-RR 2008, 1611; OLG Hamm NJW-RR 2003, 975; wohl auch OLG Karlsruhe DAR 2001, 128; offen gelassen von der Kammer, Beschl. v. 2.7.2012 – 13 S 69/12 und v. 20.8.2012 – 13 S 124/12).

bb) Letztere Auffassung verdient den Vorzug. Den nach § 8 StVO Wartepflichtigen trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht mit der Folge, dass sich der Wartepflichtige nur eingeschränkt auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Er darf zwar i.d.R. auf das Unterbleiben atypischer, grober Verkehrsverstöße des Vorfahrtsberechtigten vertrauen, muss jedoch die Möglichkeit sonstiger Verkehrsverstöße des Vorfahrtsberechtigten in Betracht ziehen (vgl. Saarländisches OLG a.a.O.). Ein Vertrauen des Wartepf...

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