Es ist nicht unbedingt wünschenswert, dass ein und demselben Begriff in ein und demselben Gesetz eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Berücksichtigt man die klassischen Auslegungsmethoden, so darf dies einen Juristen allerdings auch nicht überraschen. Denn der Wortlaut ist nur ein erster Anhalt im Rahmen der Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals, der Kontext, die Absichten des historischen Gesetzgebers und vor allem Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung können durchaus für ein unterschiedliches Begriffsverständnis streiten.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Entscheidung des BGH v. 8.3.2022 – VI ZR 1308/20 ein Musterbeispiel juristischer Hermeneutik. Zwar unterwirft sie den Begriff des "anderen Verkehrsteilnehmers" in § 7 Abs. 5 StVO gerade den Einschränkungen, die der BGH im Kontext des § 9 Abs. 5 StVO und § 10 S. 1 StVO 2018 ausdrücklich noch abgelehnt hatte (BGH Urt. v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17); der BGH stützt diese Entscheidung aber auf eine sorgfältige Analyse des historischen Kontextes der Vorschrift und vor allem auf die Zweckbestimmung des § 7 Abs. 5 StVO, der eben nur den Interessen des fließenden Verkehrs Rechnung tragen will.

In den § 9 Abs. 5 StVO und § 10 S. 1 StVO geht es um die Aufmerksamkeit, die der Kraftfahrer, der sich rückwärtsfahrend oder von außerhalb in den Verkehr begibt, anderen Verkehrsteilnehmer schuldet, die bereits Bestandteil dieses Verkehrsraumes sind. Hier ist es sinnvoll und zumutbar zu verlangen, dass der Ein- bzw. Anfahrende, der Wendende oder der Rückwärtsfahrer seine volle Aufmerksamkeit jedem schenkt, der sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt.

Bei § 7 Abs. 5 StVO liegen die Dinge anders. Würde man auch von dem Spurwechsler verlangen, dass er auch eine Gefährdung derer auszuschließt, die dem fließenden Verkehr noch nicht angehören, könnte dies die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs erheblich beeinträchtigen. Man stelle sich nur einmal vor, dass sich auf einer zweispurigen Straße ein Hindernis auftut, und der nachfolgende Verkehr dazu ansetzt, dieses zu umfahren. Wäre der Fahrzeugführer in einem solchen Falle verpflichtet, nicht nur eine Gefährdung des fließenden Verkehrs, sondern auch der Verkehrsteilnehmer auszuschließen, die im Begriff sind, vom Straßenrand oder einer Parkfläche außerhalb, in die neue Spur einzufahren, dürfte er sich unter Umständen nur tastend auf die andere Fahrbahn zubewegen. Erst wenn er sie ganz erreicht und auf der neuen Spur fortbewegt, könnte er wieder Geschwindigkeit aufnehmen und auf den Vorrang des fließenden Verkehrs vertrauen.

Völlig zu Recht kommt der BGH daher zu dem Schluss, dass es hier eines differenzierten Begriffsverständnisses bedarf.

VROLG a.D./Rechtsanwalt Dr. Hans-Joseph Scholten

zfs 2/2023, S. 71 - 74

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