[2] Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung gegen die Verurteilung der Beklagten in Ziffern 1., 2., 4. des Endurteils hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg. Hinsichtlich Ziffer 3. des Endurteils ist die Berufung zurückzuweisen. In Ziffer 5. des Endurteils ist die Entscheidung nicht angegriffen und insoweit rechtskräftig.

[3] I. Das Landgericht hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf weiteres Schmerzensgeld, Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle Schäden sowie Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bejaht. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer fehlerhaften Beweiserhebung, weil die erholten Gutachten unbrauchbar sind.

[4] 1. Die Klägerin erlitt durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zwar keine HWS-Distorsion, jedoch, wie im HNO-Gutachten im Verfahren LG München I 19 O 3272/12 (= 10 U 119/16 OLG München) bereits festgestellt, eine geringfügige Hörminderung und einen beidseitigen Tinnitus. Die Feststellungen des Sachverständigen, wonach eine Primärverletzung der HWS nicht Voraussetzung für die Annahme der Unfallbedingtheit des Tinnitus/Hörschadens ist, sind grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das im hiesigen Verfahren erholte HNO-Gutachten vom 19.11.2016 berücksichtigt aber nicht, dass die Klägerin ausweislich der Angaben des Professor E. im Parallelverfahren (Sitzungsniederschrift vom 30.1.2015, S. 3 = Bl. 138 der beigezogenen Akten) diesem gegenüber im März 2013 angab, dass sie keinen Tinnitus mehr habe, wobei auch das Audiogramm rechts unauffällig war. Weiter gab die Klägerin noch bei der Anamnese bei Dr. K. im Parallelverfahren am 26.5.2014 diesem gegenüber an, dass das "Piepen" ganz wegging, nachdem sie Ende 2012 und Anfang 2013 einen Heiler in Brasilien aufgesucht hatte. Der nach dem HNO-Gutachten als unfallbedingt einzustufende Tinnitus beeinträchtigte die Klägerin somit zunächst ab März 2013 überhaupt nicht mehr und erst mit der Berufungsschrift im Parallelverfahren wurde vorgetragen, der Tinnitus sei nach wie vor vorhanden. Das HNO-Gutachten lässt jegliche Auseinandersetzung hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallgeschehen und dem neuerlichen Auftreten des bzw. der neuerlichen Beeinträchtigung durch den Tinnitus nach einer Pause von mehr als einem Jahr vermissen. Zudem hat der HNO-Sachverständige im Verfahren 19 U 3727/12 im Termin vom 30.1.2015 (Protokoll S. 5 = Bl. 140 d.A.) ausgeführt, dass nach einem Audiogramm 2013 der Tinnitus nicht mehr vorhanden war und rechts wieder eine Normalhörigkeit vorliegt, somit von einer Heilung der Klägerin auszugehen sei.

[5] 2. Der psychiatrische Sachverständige attestierte eine zum Zeitpunkt der Untersuchung leichtgradig depressive Episode als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD 10, F 43.1. Hinsichtlich der Beurteilung der PTBS stützt sich der Senat ausschließlich auf die ICD 10: F43.1 (vgl. Senat, Urt. v. 26.7.2017, 10 U 3773/16): "Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über".

[6] Vor allem ist zu beachten, dass das sog. A-Kriterium ein objektives Element enthält (die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde), welches die Annahme einer PTBS bei vielen Verkehrsunfällen nach richtiger Auffassung verhindert. Vorliegend kommt die Annah...

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