Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ur-BGB im Bereich des immateriellen Schadensersatzes den Schutz des Schädigers eher im Auge hatte als den des Geschädigten. Davon hat man sich inzwischen weit entfernt.

Jedenfalls nach der Schuldrechtsreform dürfte ein Jhering der Gegenwart eher formulieren:

Zitat

"Jeder fremdverursachte Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, bei schuldhaftem Verhalten umso mehr".

Und wenn man den Kommerzialisierungsgedanken einen Moment einmal vernachlässigt – wie es der Gesetzgeber selbst bei § 651f BGB getan hat – ist festzustellen, dass sich auch im immateriellen Bereich einiges getan hat, was die Einschränkung des § 253 Abs. 1 BGB so aufgeweicht hat, dass da auch noch Platz für mehr ist.

Gegen ein Angehörigenschmerzensgeld wird zwar häufig angeführt, dass einem solchen Anspruch Schwierigkeiten bei der Bezifferung entgegenstehen.[53] So hatte sich ja auch die Bundesjustizministerin in dem eingangs erwähnten Antwortschreiben eingelassen.

Allerdings sollten Schwierigkeiten bei der Schadensbemessung kein Grund für die Ablehnung eines Ersatzanspruches dem Grunde nach sein. Schon die Motive[54] weisen auf die tatrichterliche Schätzungsbefugnis nach dem damaligen § 260 ZPO hin, und dieser Gedanke hat sich für derartige Fälle bis heute konkretisiert. Es gibt ja auch keine Norm, die einem Kunstfehler-Patienten genau das Schmerzensgeld zuspricht, das für seinen konkreten Fall etwa die ADAC-Schmerzensgeldtabelle hergibt. Deshalb gibt es diese Tabelle.

Auch eine drohende "Amerikanisierung" unseres Rechts, wonach gierige Anwälte sich und denjenigen zum Millionär machen, der sich an einem Kaffeebecher verbrennt oder seine Katze in der Mikrowelle trocknen will, sollte der Einführung eines Angehörigenschmerzensgeldes nicht entgegenstehen. Diese Gefahr wird oft überschätzt, weil viel über erstinstanzlich hohe "jury-awards" berichtet wird; nicht jedoch über dasjenige, was in der Berufungsinstanz daraus wird. Des Weiteren läuft unter dem Stichwort "tort reform" in den USA derzeit eine Rechtsentwicklung, durch prozessuale Beschränkungen und Obergrenzen für Schadensersatz derart "frivole" Rechtsstreitigkeiten zu verhindern.

Und solange in Deutschland Berufsrichter anstelle von teilweise geschickt emotionalisierten Juries mit Augenmaß mit der gegebenen Möglichkeit umgehen, besteht kaum die Gefahr, dass es der Höhe nach zu Auswüchsen kommt. Wir haben auch bei sonstigen Verletzungen keine gesetzliche Schmerzensgeldzumessung, vielmehr in der ADAC-Tabelle und ähnlichen genannten Werken eine subtile Sammlung von Gerichtsentscheidungen, anhand derer jeder eigentlich weiß, woran er ist. Es wäre eine Frage der Zeit, bis die Rechtsprechung auch für das Angehörigenschmerzensgeld das Material für einen entsprechenden Katalog geliefert hat.

Dem deutschen Recht dürfte vielmehr auf Grund der aufgezeigten Umstände eine Anpassung an europäische Standards gut zu Gesicht stehen, wie dies in anderen Ländern Europas der Fall ist.[55] Systematische Gründe stehen dem nicht entgegen.

[53] So Medicus, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 4. Aufl., S. 88, 84.
[54] Zu § 728 S. 801.
[55] Jüngst hat sogar der Türkische Oberste Gerichtshof seine bisherige Meinung zu Schmerzensgeldhöhen mit dem Argument verlassen, dass sich die Türkei europäischen Maßstäben angleichen müsse, wolle das Land in die EU aufgenommen werden.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge