Für alle Ansprüche in diesen kalkulierten Störfällen, ist der Wert der Wart- und Pflegeverpflichtung nach dem Tod des Berechtigten zu ermitteln. Aus diesem Grund lassen sich diese Bewertungen besonders differenziert vornehmen, da nach dem Ableben der Berechtigten grundsätzlich auch bekannt ist, ob und wann Bedarfsstufen von den Berechtigten erfüllt wurden.

Übergabeverträge mit Wart- und Pflegeverpflichtungen können nach Vertragsschluss völlig unterschiedliche Abläufe nehmen. Dabei sind Beginn und Endpunkt im Ablauf des Übergabevertrags einfach bestimmbar. Die Wart- und Pflegeverpflichtung läuft grundsätzlich vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses bis zum Ableben des Berechtigten. Eine anderweitige Beendigung ist denkbar, z. B. durch Ablösen der Wart- und Pflegeverpflichtung im Rahmen eines neuen Vertrags. Anfangs- und Endpunkt der Vertragslaufzeit sind daher genau definiert. Wichtig für die Betrachtung ist das Schicksal der Wart- und Pflegeverpflichtung.

Nachfolgend wird daher die für die Untersuchung maßgebende Zeit, in der die Wart- und Pflegeverpflichtung gilt, in Bezug auf den Wart- und Pflegeverpflichteten gesetzt und deshalb Verpflichtungszeitraum (VZ) genannt. Das besondere Risiko für den Verpflichteten ergibt sich daraus, dass die Länge des Verpflichtungszeitraums (VZ) bei Vertragsschluss noch nicht feststeht.

Hinsichtlich der Realisierung des Eintritts des Bedarfsfalls vollzieht sich die Betrachtung wie folgt: Ohne besondere Ausgangslage bei Vertragsschluss, wie etwa eine bereits bekannte infauste medizinische Prognose für den Berechtigten, ist das Risiko danach für beide Vertragsparteien gleich hoch. Rein wirtschaftlich gesehen, geht das Risiko im Vertragsverlauf zulasten des Berechtigten, wenn die Lebenserwartung etwa wesentlich unterhalb der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt oder zulasten des Verpflichteten, wenn sie deutlich darüber liegt.

Als Beispiel hierzu ist der Fall der Französin Jeanne Calment[15] aus Arles erwähnt, indem der Verlauf eines Übergabevertrages gegen Rentenzahlungen aus dem Jahre 1965 extrem in den Risikobereich des Übernehmers fiel. Die Übergeberin Jeanne Calment übertrug im Alter von 90 Jahren ihre Stadtwohnung in Arles gegen lebenslange Zahlung einer Leibrente von 2.500 Francs pro Monat an den zu diesem Zeitpunkt 47-jährigen Rechtsanwalt Andre-François Raffray. Nach ihrem Tod sollte die Wohnung an den Übernehmer fallen. Ausgehend von der typischen Lebenserwartung einer Dame von 90 Jahren im Jahre 1965, erscheint der Übergabevertrag als ziemlich günstiges Geschäft für den cleveren Rechtsanwalt. Tatsächlich erlebte Raffray das Ende seiner Zahlungsverpflichtung jedoch nicht mehr. Als er im Dezember 1995 im Alter von 77 Jahren verstarb, musste seine Witwe die Rentenzahlungen fortsetzen. Die rund 900.000 Francs, die er bis dahin bereits bezahlt hatte, entsprachen dem dreifachen Marktpreis der Wohnung. Die Übergeberin wurde als Mensch mit der längsten bislang dokumentierten Lebensspanne bekannt. Sie wurde 122 Jahre alt.

Abbildung 1: Jeanne Calment im Jahr 1895 als 20-Jährige[16]

Das Risiko einer lebenslangen Verpflichtung, wie einer Rente oder Wart- und Pflege, ist nicht zu unterschätzen. Das Beispiel macht deutlich, dass ein vermeintlich geringes Risiko für den Verpflichteten sich durchaus in einer extremen Belastung im Rahmen des Verpflichtungszeitraums (VZ) realisieren kann.

Für den Ablauf des Übergabevertrags mit Wart- und Pflegeverpflichtung ergibt sich infolgedessen auch ein weiterer relevanter Zeitraum, nämlich die typische Lebenserwartung des Berechtigten ausgehend vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Dieser Zeitraum wird als typischer Lebenswartungszeitraum (TLZ) bezeichnet.[17]

Die Länge des typischen Lebenserwartungszeitraums wird der Anlage zu § 14 BewG entnommen, die auf den amtlichen Sterbetafeln fußt.

Vergleicht man die beiden definierten relevanten Zeiträume, den Verpflichtungszeitraum (VZ) und den typischen Lebenserwartungszeitraum (TLZ), ist zu erkennen, dass die Länge des Verpflichtungszeitraums und des typischen Lebenserwartungszeitraums sich zum einen überlagern, aber zum anderen auch durchaus voneinander abweichen können. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied ist, dass die Länge des typischen Lebenserwartungszeitraums (TLZ) bei Vertragsschluss bereits feststeht, während die Länge des Verpflichtungszeitraums (VZ) zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich ungewiss ist. Daher sind folgende Vertragsablaufszenarien denkbar:

Verpflichtungszeitraum (VZ)

typischer Lebenserwartungszeitraum (TLZ)

 
VZ = TLZ (keine Probleme, da Grundlage des Vertrages)
VZ < TLZ (Risiko verwirklicht sich zulasten des Übergebers)
VZ >TLZ (Risiko verwirklicht sich zulasten des Übernehmers)

Ist der Verpflichtungszeitraum (VZ) gleich dem typischen Lebenserwartungszeitraum (TLZ), überlagern sich die Zeiträume und sind kongruent, dann ist das Risiko ausgewogen. Die bei Vertragsschluss angenommenen Grundlagen realisieren sich genauso.

Ist der Verpflichtungszeitraum (VZ) kleiner als der typische Lebenserwartung...

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