Ist im Zeitpunkt des Erbfalls die Ausschlagungsfrist noch nicht abgelaufen und schlägt der (Erbes-)Erbe als Rechtsnachfolger des Erblassers ein Erbe oder Vermächtnis aus, stellt sich die Frage, ob diese Ausschlagung bei der Berechnung der Pflichtteilsansprüche nachlassmindernd zu berücksichtigen ist. Eine ähnliche Fragestellung ergibt sich in Fällen, in denen unverjährte Pflichtteils- oder Pflichtteilsrestansprüche in den Nachlass fallen, die vom (Erbes-)Erben ebenso, wie vorher vom Erblasser, nicht geltend gemacht werden. Obwohl dieser Anspruch bereits mit dem Erbfall entsteht, kann er nach hiesiger Auffassung nicht per se dem Nachlassvermögen hinzugerechnet werden.

1. Bei der Berechnung des Pflichtteils wird der Bestand und der Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalls zugrunde gelegt (§ 2311 Abs. 1 S. 1 BGB: Stichtagsprinzip). Unter den Aktivbestand fallen grundsätzlich alle vererblichen Vermögensgegenstände des Erblassers. Unstreitig zählen hierzu eine angenommene Erbschaft oder ein angenommenes Vermächtnis[1] sowie ein noch vom Erblasser geltend gemachter Pflichtteilsanspruch. Kontrovers werden die Fälle diskutiert, in denen der Erbe als Rechtsnachfolger des Erblassers die Erbschaft oder das Vermächtnis noch ausschlagen kann. Während vorwiegend in der älteren Literatur[2] vertreten wird, dass der noch nicht ausgeschlagene Erbschafts- oder Vermächtnisanspruch unabhängig vom weiteren Verhalten des Erbes-Erben dem Nachlasswert zum Todeszeitpunkt zuzurechnen ist, führt die (spätere) Ausschlagung nach der mittlerweile wohl vorherrschenden Meinung[3] zu einer Minderung des Nachlassbestands und damit zu einer Verkürzung von Pflichtteilsansprüchen. Begründet wird diese Auffassung mit der Freiheit der Ausschlagungsentscheidung des (Erbes-)Erben, der ansonsten die Erbschaft oder das Vermächtnis unter Umständen annehmen müsste, um den Pflichtteilsanspruch bedienen zu können.[4]

2. Entgegen der hierzu geäußerten Kritik[5] verstößt diese Auffassung nicht gegen das Stichtagsprinzip. Denn im Falle der Ausschlagung gilt der Anfall an den Ausschlagenden als nicht erfolgt (§ 1953 Abs. 1 BGB, § 2180 Abs. 3 BGB). Der Ausschlagende (bzw. dessen Rechtsvorgänger) war also zu keinem Zeitpunkt Erbe bzw. Vermächtnisnehmer. Dieser Fall ist also gerade nicht vergleichbar mit einer zum Zeitpunkt des Erbfalls bestehenden Forderung, auf deren Geltendmachung der Erbeserbe später verzichtet.

3. Anders als vereinzelt vertreten[6] ist es nach hiesiger Auffassung auch nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der (Erbes-) Erbe zulasten des Pflichtteilsberechtigten das Erbe bzw. das Vermächtnis ausschlägt. Zwar wird richtigerweise kaum ein wirtschaftlich vernünftig denkender Erbe das werthaltige Erbe oder Vermächtnis ausschlagen, weil ihm trotz Pflichtteilsbelastung immer mindestens 50 % für sich verbleiben. Es mag aber auch Fallgestaltungen geben, in denen gerade die Ausschlagung die wirtschaftlich oder ideell sinnvollere Alternative für den Erben ist, und auch in diesen Fällen ist es ihm zuzubilligen, die für ihn sinnvollste Alternative in Anspruch zu nehmen. Eine Obliegenheit des Erben, auf die Interessen des Pflichtteilsberechtigten Rücksicht zu nehmen, besteht im deutschen Recht nicht.

Veranschaulicht wird dies durch das von de Leve[7] verwendete Fallbeispiel, mit dem dieser freilich das Gegenteil verdeutlichen will:

Der Erblasser E bestimmt B zu seinem Erben und C zum Ersatzerben. E verstirbt unter Hinterlassung eines Vermögens von 100.000 EUR. Kurz darauf verstirbt auch B (Zweiterblasser) unter Hinterlassung eines eigenen Vermögens von 100.000 EUR, der C zu seinem Erben eingesetzt und seinen Abkömmling D enterbt hat. Die Ausschlagungsfrist des B für den Nachlass des E ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen.

Schlägt C als Erbe des B die dem B angefallene Erbschaft nach E aus, so fällt sie ihm dennoch als Ersatzerbe zu.

Der Pflichtteilsanspruch des D nach dem Tod des B bestimmt sich im Falle der Ausschlagung durch dessen Erben (C) nur nach dem Eigenvermögen des B (EUR 100.000), während diesem Vermögen – berücksichtigt man die spätere Ausschlagung nicht – auch der Nachlass des B (weitere 100.000 EUR) hinzuzurechnen ist. Der Pflichtteilsanspruch des D (als einzigem Hinterbliebenen) beträgt also in der ersten Alternative 50.000 EUR, in der zweiten 100.000 EUR.

Nach de Leve[8] dient die Ausschlagung allein dazu, die Pflichtteilsansprüche des D zu schmälern, woraus Brüstle[9], der die Schmälerung des Nachlassbestands grundsätzlich hinnimmt, einen Anspruch nach § 826 BGB konstruieren will. Teilweise wird angenommen, dass jedenfalls deshalb keine Minderung des Pflichtteils erfolgt, weil sonst der Ersatzerbe zulasten des Pflichtteilsberechtigten den Nachlass mindern könnte, obwohl er ja wirtschaftlich den Wert erhält.[10]

Diese Ansichten übersehen jedoch, dass D auch aus anderen Gründen gehalten ist, die Erbschaft auszuschlagen. Er kann so nämlich die Erbschaftsteuerfreibeträge nach E und B in Anspruch nehmen, während er anderenfalls nur einmal in den ...

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