Die Reform 2023 steht unter dem Leitgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe.[205] Ziel des Gesetzgebers ist es, eine "konsequent an der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts"[206] orientierte Unterstützung behinderter Menschen bei der Wahrnehmung eigener Angelegenheiten zu gewährleisten.

Wer wollte diesen Leitgedanken und dieses Ziel nicht nachdrücklich unterstützen?

Allerdings gilt es dabei, die dem Staat "aus den Grundrechten obliegende Schutzpflicht für hilfebedürftige Erwachsene"[207] nicht aus dem Blick zu verlieren.

Deshalb irritiert so sehr, dass die Reform 2023 diese Schutzpflicht nicht für alle hilfsbedürftigen Erwachsenen gleichermaßen verwirklicht, vielmehr die Vollmachtgeber mit "lediglich einigen wenigen normativen Grundregelungen"[208] abfinden will. Die konzeptionelle Vernachlässigung der Vorsorgevollmacht steht in deutlichem Gegensatz zu der Bedeutung, die diesem "Instrument privatautonomer Rechtsfürsorge"[209] bei der Modernisierung des Betreuungsrechts zukommt: Ausdrücklich will der Reformgesetzgeber die "in den letzten Jahren von der Bevölkerung zunehmend genutzte" Vorsorgevollmacht "weiterhin gefördert" sehen,[210] wozu er mit den Betreuungsvereinen auch zivilgesellschaftliche Akteure in die Pflicht nimmt.[211]

Die schlechte Nachricht ist also, dass die Reform 2023 in Bezug auf den Missbrauchsschutz für Vollmachtgeber nicht nur an gravierenden verfassungsrechtlichen Defiziten, sondern auch an konzeptioneller Systemwidrigkeit leidet.

Aber: Es gibt einen Weg zur Lösung des Problems und bei genauem Hinsehen kann man diesen Weg sogar schon in den Gesetzesmaterialien selbst vorgezeichnet finden – das ist die gute Nachricht!

Denn der Gesetzgeber hat mit dem Hinweis darauf, dass die "einigen wenigen Grundregelungen" zur Vorsorgevollmacht (nur) eine "Ausgangslage bieten, dieses Rechtsinstrument in den nächsten Jahren fortzuentwickeln, sofern sich in der Rechtspraxis hierfür ein Bedarf zeigt",[212] seine Bereitschaft zu einem solchen Vorgehen ausdrücklich bekundet.

Deshalb werden hier drei Schritte vorgeschlagen, die zugleich den Regelungsauftrag des Koalitionsvertrags[213] erfüllen:

Empirische Bedarfsanalyse – erstens gilt es, den Missbrauch von Vorsorgevollmachten quantitativ in seinem Aufkommen sowie qualitativ in seinen Erscheinungsformen zu erfassen und die hierfür erforderlichen Strukturen zu schaffen.
Normative Bedarfsanalyse – parallel zu der empirischen Analyse ist zweitens die aus der Reform 2023 ausgeklammerte "detailliertere Betrachtung dieses Themas" im Zusammenhang "mit allgemeinen zivilrechtlichen Fragen, aber auch mit potenziellen strafrechtlichen Maßnahmen"[214] anzustellen.
Schutzkonzept – damit sind dann die Grundlagen dafür geschaffen, in einem dritten Schritt die Reform zu einem Schutzkonzept mit präventiven und repressiven Elementen i.S.d. BVerfG "fortzuentwickeln"[215].
Die Fortentwicklung der Reform 2023 sollte ein Gemeinschaftsprojekt von Gesetzgebungs- und Anwendungspraktikern sein. Mit dem oben angekündigten dritten Beitrag in dieser Zeitschrift sollen dazu Anregungen gegeben werden.
[205] Vgl. BT-Drucks 19/24445, 108.
[206] BT-Drucks 19/24445, 2.
[207] BT-Drucks 19/24445, 108.
[208] BT-Drucks 19/24445, 150.
[209] BT-Drucks 19/24445, 244.
[210] BT-Drucks 19/24445, 244.
[211] Vgl. § 15 BtOG.
[212] BT-Drucks 19/24445, 150.
[213] Vgl. oben.
[214] BT-Drucks 19/24445, S. 150.
[215] A.a.O.

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