Zitat

"Bei der Vorsorgevollmacht handelt es sich daher um ein echtes "Erfolgsmodell", das aus Sicht des Gesetzgebers weiterhin gefördert werden soll […]".[13]

Doch trifft es auch zu? Woran wird Erfolg gemessen? An der Anzahl der erteilten Vollmachten? An der Häufigkeit entbehrlicher rechtlicher Betreuung? An der Einsparung von Kosten? Der Leichtigkeit in der Anwendung? Der Vermeidung rechtlicher Streitigkeiten? Der Verbesserung der Sorge? Etwa gar an der Zufriedenheit der Betroffenen? Es gibt sicher viele Gründe, Vorsorgevollmachten als Erfolgsmodell zu bezeichnen und die langjährige Praxis sowie die stetig steigenden Zahlen scheinen ein klarer Beleg dafür zu sein. Doch dem kundigen Betrachter offenbart sich eine andere – weniger erfreuliche – Lesart der dazu veröffentlichten (Erfolgs)zahlen. Bereits ein kritischer Blick auf die rechtliche Verortung von Vorsorgevollmachten wirft Fragen auf. Das bundesdeutsche Recht regelt zwar (auch ganz neu[14]) die rechtliche Betreuung; nicht jedoch – wie immer wieder kolportiert – eine spezifische Vorsorgevollmacht. Es gibt im rechtlichen Sinne keine Vorsorgevollmachten. Jedenfalls hat der Gesetzgeber eine Legaldefinition selbst nach über 30 Jahren Anwendung stets vermieden. Selbst der "große Wurf", die Betreuungsrechtsreform ab 1/2023, verlässt sich auf die Interpretationsfreude der Anwender und damit letztlich der Gerichte. Da stellt sich die Frage: Warum ist das so?

Meine Antwort als Praktikerin: Wo keine Probleme sind oder gesehen werden, verbietet sich die Suche nach Lösungen. Aber wer sieht lösungsbedürftige Probleme, wer kann diese benennen? Im gesamten Prozess der Reform wurden Vorsorgevollmachten zwar thematisiert und letztlich auch einbezogen,[15] aber die Grundlagen dafür lieferten Experten des Betreuungsrechts: Sozialverbände, Ärzte, Juristen, Betreuungsbehörden, Wissenschaftler. Allen gemein ist, dass sie tatsächlich viel Erfahrung mit Betreuung und privater Vorsorge haben. Aber ich bestreite, dass sie Experten für die nicht so lauteren Triebkräfte von Menschen sind. Nicht anders kann ich mir erklären, warum im gesamten Prozess der Novellierung hierfür relevante Einsichten ausgelassen wurden. Ein Betreuungsrecht, das hinter die private Vorsorge zurücktritt (und deren ganz praktischer Verwirklichung im Alltag, denn darum geht es letztendlich), sollte insb. den Menschen, der dies umsetzt, im Blick haben. Und dabei eben nicht nur den, der sich eine gute und in seinem Sinne gestaltete Sorge wünscht, sondern vor allem den, der diese umzusetzen gewillt ist.

Denn der Mensch ist nicht nur im Rousseau'schen Sinne lauter und rein,[16] sondern eben auch im Hobbesschen Ansatz misstrauisch, egoistisch und hinterhältig[17], und der Staat war und ist immer gut beraten, dies zu beachten. Nicht umsonst entwickelt er stets das dazu notwendige Regelwerk weiter, um ein Gemeinwohl, dass allen dient, zu verwirklichen.

Wenn man also das neue Betreuungsrecht einmal aus der Perspektive des Anwenders betrachtet, dann gibt es dort zwei Sichtweisen: die des Betreuten und die des Betreuenden. Es erscheint ziemlich klar und unstrittig, was die Betreuten sich wünschen. Sowohl im Rousseau'schen Sinn als auch mit dem misanthropen Blick Hobbes': eine gute Pflege und Sorge durch andere, wenn die eigene Kraft nicht (mehr) hinreicht, dies selbst zu verwirklichen. Aber ist dies der alleinige Grund der anderen? Treibt diese tatsächlich lediglich ein altruistischer Wille, Zeit, Kraft und Ressourcen aufzuwenden? Nein, so naiv war tatsächlich niemand. Aber offenbar ging und geht man davon aus, dass die freiwillige Übernahme von derart viel Verantwortung und Arbeit entweder monetär (bei Betreuung) oder moralisch (private Bevollmächtigung) begründet ist. Einen "niederen Beweggrund" konnten oder wollten sich die Architekten des neuen Gesetzes nicht vorstellen.

Ich kenne aus meiner langjährigen Arbeit leider viel zu gut, was den Menschen (auch) immer wieder antreibt: Der Wunsch nach Wohlstand über Geld. Möglichst viel und mit wenig Aufwand. Eine der stärksten Triebkräfte für Kriminalität schlechthin. Aus Sicht von Kriminellen ist dieses neue Betreuungsrecht eine wahre Goldgrube und ein gefundenes Fressen.

[13] Müller-Engels, FamRZ 2021, 645–652.
[14] Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4.5.2021 (BGBl I, 882).
[15] Etwa im Subsidiaritätsgrundsatz, wonach rechtliche Betreuung hinter privaten Vorsorgevollmachten zurückzutreten haben und ganz explizit im § 1820 BGB n.F.
[16] Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Schröder, Frühe Schriften, 1965, S. 97–246.
[17] "Bellum omnium contra omnes" (jeder kämpft gegen jeden) und wird von dabei von seinen Trieben (nach Selbsterhaltung und nach einem angenehmen Leben) bestimmt; Hobbes, De Cive, in: Waas, Vom Bürger. Vom Menschen, 2017, S. 18.

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