So oder so ähnlich laufen viele Schicksale ab, die unsere Dienststelle erreichen. Wie viele solcher Fälle dringen "an die Öffentlichkeit" – belegen also das Problem? Wie viele Hochalte haben tatsächlich eine so wachsame Tochter? In dem hier relevanten Alter (Ü80) sind die Kinder meist selbst betagt und u.U. nicht mehr so fähig und in der Lage wie diese Tochter. Wann genau hätte Friedhelm – das Opfer – selbst eine Anzeige gemacht? Die Tochter bereits beim ersten unguten Gefühl? Wäre Friedhelm dann einsichtiger gewesen? Wieviel Töchter wären überhaupt so weit gegangen? Wenn alle Behörden, Gerichte und die Polizei nichts Strafbares erkennen? Was hätte die Polizei ermitteln können? Sie hätte vielleicht – bei Zweifeln an Friedhelms Geisteskraft – das Betreuungsgericht informiert. Denn die Pflegerin (als Tatverdächtige) könnte Friedhelm nicht mehr in dieser Sache vertreten. Bisher war dies unser wichtigster Ermittlungsansatz. Der Zweifel am Wohl des Betroffenen, was den Gerichten (die nicht lebensfremd sind) ausreichte, um einen außenstehenden Betreuer – trotzt Vollmacht – zu berufen. Der dann den Betroffenen wirksam vertreten und notwendige Hilfe angedeihen lassen würde. Der die Vollmacht der Beschuldigten widerruft und versucht, Verträge rückabzuwickeln. Der den Schaden – soweit möglich – beziffert, belegt und zivilrechtlich rückfordert. Die Strafverfahren werden dennoch im Regelfall eingestellt (in dubio pro reo) und Zivilverfahren werden schwieriger. Denn mit Hinweis auf die Einstellung der Verfahren liegen für die unlauteren Bevollmächtigten ziemlich gute Argumente auf dem Tisch.

Aber selbst das wird zukünftig kaum noch möglich sein. Denn die Wohlschranke (also der Ansatz für die Betreuerbestellung) wurde abgeschafft.[12] Nunmehr zählt fast nur noch der Wille des Betroffenen. Und der ist zweifelhaft. Denn ab wann – um zu Friedhelm zurückzublicken – war er "nicht mehr in der Lage" wie es im neuen Gesetz heißt. Was genau wären denn die "konkreten Anhaltspunkte" gewesen, dass "nicht mehr im Interesse des Betroffenen gehandelt wurde"? Was genau ist im Übrigen Friedhelms Interesse? Das allgemein übliche, lebensnahe und gefährdete Wohl jedenfalls ist nach dem neuen Recht kein begründbarer Ansatz mehr.

Im hier geschilderten Fall wurden bewusst optimale Bedingungen vorausgesetzt: Die unstrittige Vollmacht war ausführlich, eindeutig, vollumfänglich und notariell beglaubigt. Das Innenverhältnis war nicht nur bekannt, sondern auch schriftlich (und damit rekonstruierbar) niedergelegt; die Mittel zur Umsetzung mehr als gegeben. Die Bevollmächtigten waren willens und in der Lage. Ärzte, Gericht, Polizei unterstützten über das erforderliche Maß (die allgegenwärtige Ressourcenknappheit wurde ausgeblendet). Das alles spielt nur leider keine Rolle, da selbst die beste Vollmacht einfach ausgehebelt und mit einer neuen ersetzt werden kann. Deren Wirksamkeit zu prüfen (ob sie tatsächlich unter freier Willensbildung ausgefertigt wurde) ist de facto nicht erreichbar. All diese Umstände sind darüber hinaus im Regelfall so nie gegeben. An irgendetwas fehlt es immer. Oft an finanziellen Mitteln, sich als Angehöriger rechtlichen Rat und Beistand zu holen, aber häufig bereits an den rechtlichen Zwängen. So bestand für den Arzt eine Schweigepflicht, die er strenggenommen unterlief. Das Betreuungsgericht hat – obwohl untersagt – Auskünfte erteilt. Wesentlich häufiger wird unter Berufung auf den angeblichen Willen des Betreuten, den Angehörigen/ehemals Bevollmächtigten keine Auskunft erteilt und – was noch wesentlich schwerwiegender ist – bei diesen auch keine Auskunft eingeholt. So wäre unwidersprochen geblieben, dass der Vater der Tochter unberechtigte Geldentnahmen vorwarf (die die Pflegerin vornahm), dass er keinen Kontakt gewünscht hätte (weil die Pflegerin ihm weismachte, die Tochter würde nicht mehr kommen und sei hinter seinem Geld her), er sein Vermögen angeblich verschenken wollte. Es hätte dann niemand ein Gutachten zu diesen angeblichen Willensbekundungen des Vaters eingeholt.

Aber genau darauf kommt es eigentlich an: Ist ein Mensch noch in der Lage, einen freien Willen zu bilden? Erst recht, wenn die Willensbefolgung oberstes Gebot im neuen Betreuungsrecht ist?

[12] Das neue Betreuungsrecht sieht insbesondere "[…] die Geltung einer konsequent subjektiven Sichtweise des Betreuten [vor], so dass die Wunschbefolgungspflicht auch bei einer Gefährdung nicht mehr durch die bisherige an der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientierte "Wohlschranke" begrenzt wird, sondern statt objektiver Kriterien hilfsweise der mutmaßliche Willen heranzuziehen ist […]" (BT-Drucks 564/20, 169 v. 25.9.2020) (Einfügung und Hervorhebung durch die Autorin).

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