1. Bemessung von Arbeitslosengeld (ALG) bei Anspruchsberechtigten mit Wohnsitz in Frankreich

Die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs gelten nach § 30 Abs. 1 SGB I für Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Allerdings bleiben nach Abs. 2 der Norm Regelungen über- und zwischenstaatlichen Rechts (wie das Sozialrecht der EU und zahlreiche zwischenstaatliche Abkommen über soziale Sicherheit) unberührt. Wegen Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthält die VO (EG) Nr. 883/2004 in §§ 6165a Vorschriften, die § 30 Abs. 1 SGB I vorgehen.

Vorliegend wohnte die Klägerin in Frankreich, wenige Kilometer von der Grenze entfernt, und war in Deutschland beschäftigt. Sie kehrte arbeitstäglich zu ihrem Wohnort zurück. Sie ist echte Grenzgängerin i.S.v. Art. 1f VO (EG) 883/2004.

 

Hinweis:

Grenzgänger sind Personen, die in einem Mitgliedsstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben und in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen, in denen sie i.d.R. täglich, mind. jedoch einmal wöchentlich zurückkehren.

Die Klägerin bezog von Oktober 2017 bis zum 12.4.2018 Krankengeld und arbeitete trotz fortbestehenden Arbeitsverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Am 13.4.2018 meldete sie sich arbeitslos und beantragte ALG. Nach einem Gutachten des ärztlichen Diensts der Beklagten war sie mit Einschränkungen vollschichtig leistungsfähig. Die Parteien streiten über die Höhe des ALG, und zwar über die von der Beklagten vorgenommenen Abzüge zur Lohnsteuer und zum Solidaritätszuschlag (§ 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 u. 3 SGB III). Auch bei einem Höhenstreit ist nach st. Rspr. – s. etwa BSG v. 23.10.2018 – B 11 AL 21/17 R – aber zunächst stets zu prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach vorliegen.

Nach Art. 65 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 haben Personen, die während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen als dem für die Leistung – hier: ALG, auf das die Klägerin grds. Anspruch hat (§ 137 SGB III) – zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben, sich bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehenden Arbeitsausfall – anders ist die Rechtslage bei vollarbeitslosen Personen (s.u. Hinweis 2.) – ihrem Arbeitgeber oder der Arbeitsverwaltung des zuständigen Mitgliedstaats zur Verfügung stellen. Sie erhalten Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob sie in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Demnach war die Beklagte für die Klägerin der zuständige Leistungsträger.

Die Höhe des ALG beläuft sich nach näherer Maßgabe des § 149 SGB III über 67 % (wenn mind. ein Kind zu berücksichtigen ist), ansonsten 60 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das Arbeitslose im Bemessungszeitraum (s. § 150 SGB III) erzielt haben (Bemessungsentgelt), als durchschnittlich auf den Tag entfallendes beitragspflichtiges Arbeitsentgelt (s. § 151 Abs. 1 SGB III). Zu den pauschalierten Abzügen gehören nach § 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB III die Lohnsteuer und nach Nr. 3 der Vorschrift der Solidaritätszuschlag. Die Feststellung der Lohnsteuer richtet sich nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, als Lohnsteuerabzugsmerkmal gebildet war (§ 153 Abs. 2 S. 1 SGB III).

Das BSG hat bereits am 3.11.2021 – B 11 AL 6/21 R (hierzu Bieback, jurisPR-SozR 7/2022 Anm. 3 und Sartorius/Winkler, ZAP F. 18, 1872 f.) hinsichtlich der Höhe des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld (§§ 105 ff. SGB III, die Vorschrift des § 153 SGB III ist hier entsprechend anwendbar, s. § 106 Abs. 1 S. 6 SGB III) entschieden, bei echten Grenzgängern i.S.v. Art. 1f VO (EG) 883/2004 habe im Fall der Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld beim Träger der Arbeitsverwaltung in Deutschland kein pauschalierter Abzug für Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag zu erfolgen, wenn für die Betroffenen keine Steuerpflicht in Deutschland besteht und die bezogene Leistung im Ausland zu versteuern ist. Nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) Deutschland-Frankreich (Fassung ab 1.1.2016) sind Einkünfte von Grenzgängern aus nichtselbstständiger Arbeit und auch Sozialleistungen im Wohnsitzstaat zu versteuern, insofern im Beschäftigungsland keine Steuerpflicht besteht und auch keine Lohnsteuerklasse als Lohnsteuerabzugsmerkmal vorliegt (Art. 13 Abs. 5 DBA). Bei Bestimmung der Höhe des Kurzarbeitergeldes ist das Lohnsteuerabzugsmerkmal (s. § 153 Abs. 2 S. 1 SGB III) nach § 39 Abs. 4 Nr. 5 EStG die – antragsabhängige – Mitteilung, dass der von einem Arbeitgeber gezahlte Arbeitslohn nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Lohnsteuer freizustellen ist (hierzu Küttner/Weil, Personalbuch, 29. Aufl. 2022, Stichwort: Grenzgänger, Rn 10 ff.). Wegen Vorrangs des DBA (§ 2 AO) kann folglich in solchen Fallgestaltungen keine Zuordnung einer Steuerklasse vorgenommen werden. Der Wortlaut des § 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB III i.V.m. den Vorschriften des EstG bieten dafür keinen Anhaltspunkt, so das BSG durch Urt. v. 3.11.2021 – B 11 AL 6/21 R.

 

Hinweise:

  1. Deutschland hat nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit Österreich und der Schweiz ein DBA...

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