§ 1 BRAO definiert den Rechtsanwalt als "unabhängiges Organ der Rechtspflege". Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt, dass jeder Bürger gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Gerichten haben muss und sich hierzu rechtskundiger Dritter bedienen darf, da der juristische Laie angesichts der Komplexität der Rechtsordnung in aller Regel nicht in der Lage sein dürfte, seine Rechte umfassend zu kennen und dementsprechend wahrzunehmen. Diese rechtskundige Unterstützung obliegt dem Beruf des Rechtsanwalts.

Unter der Rechtspflege wird "die Pflege des Rechts, seine Verwirklichung und Vollziehung" verstanden. Heutzutage kann eine Bezugnahme auf die Rechtspflege nur noch klarstellen, dass der Rechtsanwalt gleichberechtigt mit Richtern, Staatsanwälten und Verwaltungsjuristen der Durchsetzung des Rechts dient. Die Berufsordnung bringt dies in ihrem § 1 Abs. 3 BORA zum Ausdruck. Danach gehört es auch zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts, die Mandanten "vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern" (BeckOK-BRAO/Römermann, 22. Ed. Stand 1.2.2024, § 1 BRAO Rn 12).

Anders als der Richter ist der Rechtsanwalt aber einseitiger Interessenvertreter der jeweiligen Prozesspartei, worin zwar kein Widerspruch, sehr wohl aber ein Spannungsverhältnis zur Organeigenschaft besteht. In der gerichtlichen Praxis werden Parteivertreter nicht selten auf ihre Organeigenschaft erinnert, wobei nicht immer klar wird, was genau der Inhalt dieser Ermahnung sein soll. Als wichtigste Grenze der reinen Interessenvertretung kann man § 138 Abs. 1 ZPO nennen, der eine Wahrheitspflicht des zivilprozessualen Vortrags beinhaltet. Wenn also der Mandant seinem Rechtsanwalt z.B. mitteilt, dass er die Kündigung am 12.2.2024 in seinem Briefkasten gefunden habe, darf der Rechtsanwalt im Räumungsrechtsstreit nicht wahrheitswidrig den Zugang der Kündigung bestreiten, auch wenn das hinsichtlich der Prozesslage für seinen Mandanten günstig wäre.

Entsprechend dem in § 1 BORA dargestellten Bild des unabhängigen und freien Rechtsanwalts, ohne den es keinen Rechtsstaat gibt, genauso wenig wie eine unabhängige Justiz, müssen Rechtsanwälte frei und unabhängig agieren können und der Staat muss ihnen einen gewissen Freiraum schaffen, in dem sie ohne Furcht vor staatlichen Repressalien für das Recht ihrer Mandanten auch mit starken Worten kämpfen können sollen. Daher können Anwälte in Wahrnehmung der berechtigten Interessen ihres Mandanten in rechtsförmlichen Verfahren auch Aussagen machen, die einem normalen Bürger möglicherweise ein Ermittlungsverfahren wegen übler Nachrede/Beleidigung einbringen würden. Wegen dieser Sonderstellung unterliegen Rechtsanwälte auch nicht der Sitzungspolizei (vgl. §§ 176 ff. GVG), können also nicht aus dem Sitzungssaal verwiesen oder mit Ordnungsgeld oder Ordnungshaft belegt werden. Nur sie können aufgrund des besonderen Vertrauens, das man Anwälten entgegenbringt, Einsicht etwa in Strafakten nehmen. Deshalb kann auch nicht jeder mit zwei juristischen Staatsexamina auf Antrag Rechtsanwalt werden, sondern muss erst ein Zulassungsverfahren durchlaufen, in dem überprüft wird, ob es irgendwelche Gründe gibt, ihm die Zulassung und das damit verbundene, besondere Vertrauen von Staat und Bürgern zu versagen. Die Kehrseite der Medaille ist: Rechtsanwälte unterliegen der Disziplinaraufsicht der Rechtsanwaltskammern bzw. der Anwaltsgerichte. Wenn ein Bäcker seine Bäckerei beispielsweise zwei Wochen schließt, um in Urlaub zu gehen, passiert dem Bäcker berufsrechtlich gar nichts. Entfernt sich ein Rechtsanwalt länger als eine Woche von seiner Kanzlei, ohne für einen Vertreter zu sorgen, kann er disziplinarrechtliche Probleme mit der Rechtsanwaltskammer bekommen (vgl. § 53 Abs. 1 Nr. 2 BRAO).

Die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts wird in erster Linie als solche vor dem Staat verstanden, da er keinen staatlichen Weisungen unterliegt und seinen Beruf unter der Herrschaft des Grundgesetzes frei, unreglementiert und selbstbestimmt, ausüben darf (BVerfG, Beschl. v. 14.7.1987 – 1 BvR 537/81, AnwBl. 1987, 598). Daneben gilt die Unabhängigkeit aber auch gegenüber dem Mandanten als auch gegenüber sonstigen Dritten. Erstere hat in den Verboten der Vereinbarung von Erfolgshonoraren und Provisionen in § 49b Abs. 2 BRAO, § 4a RVG, § 49b Abs. 3 BRAO seinen Niederschlag gefunden. Das Verbot der sog. Fremdkapitalbeteiligung in § 27 BORA kann als Ausdruck der Unabhängigkeit von sonstigen Dritten verstanden werden (Peitscher, 2021, a.a.O., § 10 Rn 57).

Als Sonderform der Ausübung des Anwaltsberufs ist der sog. Syndikusanwalt zu nennen, der in § 46 Abs. 2 S. 1 BRAO seine Legaldefinition erhalten hat:

Die Besonderheit des Syndikusrechtsanwalts hinsichtlich seiner Unabhängigkeit ist, dass dieser einem Direktionsrecht seines nichtanwaltlichen Arbeitsgebers unterliegt und in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert ist. Zudem ist der nichtanwaltliche Arbeitgeber r...

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