Der Europäische Gerichtshof hat mit einer neuen Entscheidung die Hürden für Schadenersatz für unzulässige Abschalteinrichtungen bei Pkw-Abgasanlagen deutlich niedriger angesetzt als es bisher die deutschen Gerichte getan haben. Mit Urt. v. 21.3.2023 (C-100/21) entschieden die EU-Richter, dass auch solche Abschalteinrichtungen illegal sind, welche die Abgasrückführung verringern, sobald die Außentemperaturen unter einem bestimmten Schwellenwert liegen (sog. Thermofenster), sofern sie dadurch höhere Stickstoffoxid-Emissionen zur Folge haben als nach der einschlägigen EU-Verordnung Nr. 715/2007 betreffend die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen erlaubt sind.

Dies erweitert den Kreis betroffener Fahrzeugkäufer erheblich. Nach der bisherigen deutschen Rechtsprechung hatten Schadensersatzkläger bisher nur dann eine Chance vor Gericht, wenn sie nachweisen konnten, vom Hersteller bewusst und gewollt auf sittenwidrige Weise getäuscht worden zu sein. Einen solchen Vorsatz nachzuweisen, ist bisher nur beim VW-Motor des Typs EA189 gelungen, denn bei ihm wurde eine Prüfstandserkennung in der Software aufgedeckt. Nach der neuesten EuGH-Entscheidung würde jetzt auch Fahrlässigkeit des Herstellers reichen.

Eine Hürde mussten die Luxemburger Richter allerdings noch aus Weg räumen: Hatten die Fahrzeughersteller bislang immer argumentiert, die fraglichen EU-Vorgaben zum Stickstoffdioxid-Ausstoß würden allein die Umwelt und nicht den einzelnen Fahrzeugkäufer schützen, so ist ihnen dieses Argument jetzt aus der Hand genommen worden. Die fraglichen Normen über die erlaubten Abgasmengen schützen auch den Einzelnen und nicht nur die Interessen der Allgemeinheit, entschieden die EU-Richter. Dies ergebe sich u.a. daraus, dass die Hersteller nach der EU-Richtlinie verpflichtet seien, jedem Käufer eine sog. Übereinstimmungsbescheinigung auszuhändigen, mit der sie bestätigen, dass das Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsvorschriften entspricht. Durch diese Bescheinigung soll somit auch ein individueller Käufer davor geschützt werden, dass ein Hersteller gegen seine Pflicht verstößt, Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, die nicht den gültigen Abgasnormen entsprechen, argumentieren die Richter.

In der Presse ist nach der EuGH-Entscheidung bereits die Frage aufgeworfen worden, ob jetzt eine weitere Klageflut von Diesel-Käufern über die deutschen Gerichte hereinbrechen wird. Die Deutsche Umwelthilfe hat u.a. eine Zahl von bis zu 10 Mio. betroffenen Dieselfahrzeuge in den Raum gestellt. Verwiesen wurde in der Presse auch darauf, dass derzeit allein beim BGH noch mehr als 1.900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden von Fahrzeugkäufern anhängig sind, von denen viele wegen des EuGH-Verfahrens erst einmal zurückgestellt worden waren. Experten sind allerdings vorsichtiger: Sie verweisen darauf, dass der EuGH nur einige der Hürden auf dem Weg zu einem Klageerfolg ausgeräumt hat. So schweigt das europäische Recht zur Frage des Schadensersatzes; folgerichtig verweisen die Luxemburger Richter hierfür auf die näheren Anspruchsvoraussetzungen im nationalen Schadensersatzrecht. Die deutschen Richter werden also zum einen zu prüfen haben, bei welchen Fahrzeugmodellen das sog. Thermofenster tatsächlich die EU-Grenzwerte verletzt. Zum anderen wird sich in jedem Einzelfall die Frage stellen, ob es nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Klägers kommt, wenn dieser jetzt nach längerem – einwandfreiem – Gebrauch des Fahrzeugs auch noch Schadensersatz bekommen würde. Insbesondere wird hier noch zu klären sein, wie eine Anrechnung des Nutzungsvorteils für die bisherige tatsächliche Nutzung des in Rede stehenden Fahrzeugs zu geschehen hat.

Der in dem konkreten Rechtsstreit in Luxemburg beteiligte Hersteller Mercedes gab sich nach dem Urteil jedenfalls demonstrativ gelassen: Den Käufern sei gar kein Schaden entstanden; sollte im Einzelfall ein Thermofenster nicht vorschriftsmäßig sein, könne das betreffende Fahrzeug jederzeit nach einem Software-Update uneingeschränkt rechtskonform weitergenutzt werden.

[Quelle: EuGH]

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