I. Einführung

Haupttätigkeitsfeld des Verteidigers im Strafverfahren ist in aller Regel das Erkenntnisverfahren und hierbei insb. die Hauptverhandlung, wohingegen das Vollstreckungsverfahren oftmals nur eine untergeordnete Rolle spielt. Richtig ist diese einseitige Fokussierung nicht: Denn gerade in Fällen, in denen angesichts der Beweislage und der im Raum stehenden Straferwartung weder mit einem Freispruch noch mit einer bewährungsfähigen Strafe gerechnet werden kann, muss alsbald auch das Vollstreckungsverfahren in den Blick genommen werden. Gelingt es dort, eine vorzeitige Haftentlassung zu erreichen, können die Rechtsfolgen der Verurteilung mitunter erheblich abgemildert werden. Hierin liegt eine große Hoffnung nahezu aller Verurteilter, wobei allerdings oftmals unterschätzt wird, dass eine solche Reststrafenaussetzung zur Bewährung nicht leicht zu erreichen ist. So lag der Anteil der Strafgefangenen, die bereits nach der Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe auf Bewährung entlassen wurden, zuletzt bei nur 1,6 %, und eine Entlassung nach zwei Dritteln wurde weniger als 13 % der Inhaftierten gewährt (MüKoStGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl. 2020, § 57 StGB, Rn 6 [nachfolgend MüKOStGB/Bearb.]). Bereits diese Zahlen belegen, dass auf eine vorzeitige Entlassung zielgerichtet hingearbeitet werden muss, wenn das Ansinnen des Verurteilten Aussicht auf Erfolg haben soll. Entsprechende Möglichkeiten gibt es durchaus: In manchen Fällen können die späteren Erfolgsaussichten schon zu Vollzugsbeginn oder gar bereits im Erkenntnisverfahren zugunsten des Verurteilten beeinflusst werden, etwa wenn er nachträglich Mittäter benennt, deren Identität er in der Hauptverhandlung noch verschwiegen hatte (LG Bremen, Beschl. v. 15.9.2022 – 81 StVK 430/20) oder er zuvor rechtzeitig Aufklärungshilfe gem. § 31 BtMG geleistet hatte (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 20.7.2005 – 1 Ws 205/05).

Die nachfolgenden Ausführungen geben unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung einen Überblick über die Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung sowie über das zugehörige Verfahren.

II. Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt

Gemäß § 57 Abs. 1 S. 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe (bei lebenslanger Freiheitsstrafe gilt § 57a StGB) zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mind. jedoch zwei Monate, verbüßt sind, die Aussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann und die verurteilte Person einwilligt. Bei der Entscheidung sind insb. die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände der Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.

 

Hinweis:

Werden mehrere Freiheitsstrafen vollstreckt, ist der gemeinsame Zweidrittelzeitpunkt maßgebend. Die Strafvollstreckungskammer trifft dann die Entscheidung nach § 57 StGB erst, wenn über die Aussetzung der Vollstreckung der Reste aller Strafen gleichzeitig entschieden werden kann (§ 454b Abs. 4 StPO).

Sind die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 S. 1 StGB allesamt gegeben, ist das Gericht zur Aussetzung des Strafrechts verpflichtet, es besteht dann anders als bei der Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 StGB kein Ermessensspielraum (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 57 StGB, Rn 20 [nachfolgend Fischer]).

1. Einwilligung

Grundvoraussetzung für eine vorzeitige Entlassung ist zunächst die Einwilligung des Verurteilten. Liegt eine solche nicht vor, scheidet eine Reststrafenaussetzung zwingend aus, die weiteren Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB werden dann nicht geprüft. Auch erfolgt keine Anhörung des Verurteilten (OLG Celle, Beschl. v. 23.6.2017 – 1 Ws 69/17).

An eine einmal erteilte Einwilligung ist der Verurteilte nicht gebunden, sondern er kann diese bis zur Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung frei widerrufen und so das Verfahren zur bedingten Entlassung selbst beenden (BGH, Beschl. v. 23.9.2020 – 2 ARs 254/20). Aus welchen Gründen er dies tut, spielt keine Rolle.

2. Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe

Darüber hinaus müssen von der verhängten Strafe zwei Drittel, mind. jedoch zwei Monate, verbüßt sein. Vorher kommt nur eine vorzeitige Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt unter den erweiterten Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB in Betracht (s.u.).

 

Hinweis:

Der Zweidrittelzeitpunkt kann bereits während der Hauptverhandlung relevant sein. Denn das Gericht hat bei der Frage der Haftfortdauer auch eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken, wenngleich es sich insoweit nicht um eine starre Grenze handelt, ab deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets ausscheidet (BGH, Beschl. v. 20.4.2022 – StB 16/22). Das Erreichen des Zweidrittelzeitpunkts führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs (BGH, Beschl. v. 3.11.2022 – StB 49/22). Stattdessen steht dem Tatgericht, das aus der Hauptverhandlung einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten gewonnen hat, ein Beurteilungsspielrau...

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