Wie bereits der vorangegangene Überblick zur aktuellen Entwicklung der normativen Grundlagen des ERV gezeigt hat, ist die rechtliche Basis dieser "Elektronifizierung" der Justiz bisher stetig erweitert worden. Anzeichen, dass sich dieser "normative Trend" hin zu einem verpflichtenden ERV verändert, sind derzeit dagegen nicht erkennbar. Dabei fällt (kaum) auf, dass über die damit zusammenhängenden Grundsatzfragen einer modernen, zeitgemäßen Justiz derzeit offenbar nicht intensiver nachgedacht wird. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel (s. nur Gilles, FS Németh, 2003, S. 557 ff. m.w.N.) – dies gilt leider überwiegend auch für die Rechtswissenschaft (dazu krit. N. Fischer, Überlegungen zu einem sozialen elektronischen Zivilprozess, KritJ 2005, 152 ff.; N. Fischer, New technologies in civil litigation, in: Gilles/Pfeiffer (Hrsg.), a.a.O., S. 85 ff.).

Vielmehr werden Justiz-Reformen hierzulande vielfach ohne vorangehende wissenschaftliche Analyse getroffen (so auch Rebehn NJW-aktuell 34/2018, S. 16). Dieses Diskursdefizit in Grundsatzfragen ist durchaus symptomatisch nicht nur für diesen Bereich des Justizrechts und der Justizorganisation (das "Justizrecht" als Grundlagenfach behandelt allgemeine Fragen und Probleme des Verfahrensrechts in allen Gerichtsbarkeiten, der Justizorganisation, der "Justizkommunikation" sowie des Juristenausbildungs- und Juristenberufsrechts sowie der Justizrechtsvergleichung). Gerade aus (justiz-)rechtswissenschaftlicher Sicht ist evident, dass derzeit offenbar weniger grundsätzliche Reformanliegen der Justiz als (rechts-)technische Einzelfragen im Vordergrund der Entwicklung des ERV stehen.

Demgegenüber sollte der Schwerpunkt einer zeitgemäßen Reformierung des Verfahrensrechts auf den Inhalten und nicht (nur) auf den Formen von Verfahren liegen (vgl. z.B. zur nur eingeschränkten Vereinbarkeit von Vollstreckungsklausel und ERV etwa Ulrici NJW 2017, 1142 ff., 1146 m.w.N.). Ein solcher Fokus würde den Blick gerade auf die Überwindung von Formformalismen und auf die sinnvolle Verbindung einer effektiven Rechtserkenntnis und Rechtsdurchsetzung mit den Vorzügen eines ERV richten.

Betrachtet man die jüngsten Novellen vor dem Hintergrund der bereits umgesetzten, o.g. ERV-Reformen, dann wird deutlich, dass längst mit der Regelung kleinster (normativer) Details begonnen wurde, bevor über Grundsatzfragen des ERV überhaupt einmal angemessen nachgedacht und diskutiert worden ist. Mögliche Grundsatzfragen einer gleichermaßen modernen und "elektronifizierten" Justiz betreffen beispielsweise die nachfolgend nur skizzierten Aspekte (vgl. bereits und m.w.N. N. Fischer, Justiz-Kommunikation, 2004, S. 17 ff.; sowie N. Fischer KritJ 2005, 152 ff.), die jeweils noch viel intensiverer Auseinandersetzung bedürfen (vgl. 1.–3.).

1. Justizorganisation und ERV

Erstens sind vor einem umfassenden ERV im Sinne eines obligatorischen EDV-Einsatzes in der Justiz grundlegende Veränderungen justizieller Strukturen bei allen damit befassten Akteuren notwendig. Dies ist dadurch bedingt, dass die Elektronifizierung der (Zivil-)Justiz und (zivil-)gerichtlicher Verfahren integraler Bestandteil einer Reform der Justizorganisation sein sollte. Obwohl die teilweise traditionell bedingten Schwerfälligkeiten, Umständlichkeiten und auch Aufwendigkeiten von Gerichtsverfahren und insbesondere der Gerichtsorganisation bereits im Rahmen der sog. Strukturanalyse der Rechtspflege (s. dazu m.w.N. Leutheusser-Schnarrenberger NJW 1995, 2441 ff.; Strempel/Rennig ZRP 1994, 144 ff.; Strempel/Götzel DRiZ 1990, 121 ff.) in einer Reihe von empirischen Untersuchungen erforscht und im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten analysiert worden sind, scheint es bis heute an nachhaltigen und transparenten Modernisierungsstrategien in Bund und Ländern zu fehlen.

Dies verwundert insbesondere angesichts dessen, dass als Ergebnis dieser Gutachten im Bereich der Justizorganisation bereits im Jahr 1995 besonders der Verbindung von "Organisationsmodernisierung" (d.h. der inneren Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften) und dem EDV-Einsatz eine "herausragende Bedeutung bei der Stärkung der Funktionsfähigkeit der Justiz" zuerkannt worden ist (so Fiedler/Haft, Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern, 1992). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass seinerzeit danach nur eine "begrenzte Vernetzung" empfohlen worden war: So sollten die PC-Arbeitsplätze der Richter aus Gründen der Datensicherheit und des Datenschutzes nicht vollumfänglich mit den EDV-Anwendungen in Geschäftsstellen bzw. Service-Einheiten vernetzt werden. Diese Forderung ist – nicht nur, aber auch – angesichts der zahlreichen Zeit- und Streitfragen um die konkreten Auswirkungen der EU-DSGVO aktuell noch von Relevanz (s. zum "Datenschutz in der elektronischen Justiz" bereits die gleichnamige Dissertation von J. Klink, Univ. Kassel, 2010).

Ungeachtet der (damaligen) Erkenntnisse aus den Gutachten zur Justizorganisation (u.a. stellte die Organisation der Gerichte und ...

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