1. Bindung an Parteianträge: ne ultra petita

Mit zwei Entscheidungen v. 9.2.2022 (5 AZR 347/21) und v. 21.7.2022 (2 AZN 801/21) haben zwei Senate des BAG zur Bindung an die Parteianträge für zwei spiegelbildliche Gestaltungen entschieden.

Im Beschluss des Zweiten Senats hatte das Berufungsgericht in seinem Tatbestand zutreffend festgehalten, dass der Kläger seine Anschlussberufung nur hilfsweise für den Fall der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils gestellt hat. Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil jedoch aufgehoben und die für diesen Fall dann aber gar nicht gestellte Anschlussberufung zurückgewiesen. Damit hat das Berufungsgericht einen gar nicht gestellten Antrag aberkannt. Das BAG hat das Berufungsurteil insoweit aufgehoben. Es stützt die Begründung auf zwei Gesichtspunkte: (1) Wegen Verletzung des § 308 Abs. 1 S. 1 ZPO und (2) zugleich auch wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers.

 

Hinweis:

Das BAG hat den Fehler behoben. Eine Zurückverweisung war nicht erforderlich, weil eine in Folge des übrigen Inhalts des Revisionsurteils bereits bei dessen Erlass feststand, dass die hier in Rede stehende Anschlussberufung keinesfalls mehr zur Entscheidung anstehen konnte.

Der Fünfte Senat hatte zuvor (BAG, Urt. v. 9.2.2022 – 5 AZR 347/21, NZA 2022, 653 den spiegelbildlichen Fall zu entscheiden, in dem das Berufungsgericht einen, laut Tatbestand und auch tatsächlich gestellten, im Protokoll aber versehentlich nicht ausgewiesenen Antrag, zuerkannt hatte. Auch hier liegt ein Verstoß gegen § 308 Abs. 1 S. 1 ZPO vor.

2. Rechtsweg: Zuständigkeit der Arbeits- oder Sozialgerichtsbarkeit?

Die Klägerin war bei der Beklagten als Ärztin tätig. Wegen Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs. 6 SGB V, 2023: 66.600 EUR) war sie im streitigen Zeitraum privat gegen Krankheit versichert. Aufgrund eines im sozialgerichtlichen Verfahren über die Statusfeststellung geschlossenen Vergleichs wurde die Klägerin wegen ihrer bestehenden Mitgliedschaft in der Bayerischen Ärzteversorgung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) befreit.

Im September 2021 klagte die Klägerin beim SG Nürnberg gegen die Beklagte für zurückliegende Zeiten Beitragszuschüsse zur privaten Krankenversicherung gem. § 257 Abs. 2 S. 1 SGB V sowie Arbeitgeberzuschüsse zur berufsständischen Versorgungseinrichtung gem. § 172a SGB VI ein. Das SG hat den Sozialrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das ArbG Nürnberg verwiesen. Auf die Beschwerde der Klägerin hat das LSG den Beschluss aufgehoben und den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für zulässig erklärt. Die vom LSG zugelassene weitere Beschwerde blieb erfolglos (BSG, Beschl. v. 31.1.2023 – B 12 SF 1/22 R, juris).

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in sonstigen Angelegenheiten der Sozialversicherung. Es handelt sich insoweit um eine Auffangregelung für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, die nicht den einzelnen Versicherungszweigen zugeordnet werden können. Ob eine bürgerliche oder öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt, bestimmt sich nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird. Das BSG entscheidet, dass es sich vorliegend nicht um eine bürgerliche Streitigkeit zwischen Arbeitsvertragsparteien (§ 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG), sondern um eine der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesene Streitigkeit handelt.

Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat hinsichtlich des Beitragszuschusses nach § 257 Abs. 2 S. 1 SGB V bereits zur Vorgängervorschrift des § 405 RVO entschieden, dass insoweit der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist (GmS-OGB, Beschl. v. 4.6.1974 – GmS-OGB 2/73). An dieser Auffassung hält das BSG weiterhin fest (s. bereits BSG, Beschl. v. 10.12.2015 – B 12 SF 1/14 R, Rn 15 m.w.N.).

Nach § 172a SGB VI zahlen für Beschäftigte, die nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht befreit sind, die Arbeitgeber einen Zuschuss in Höhe der Hälfte des Beitrags zu einer berufsständischen Versorgungseinrichtung, höchstens die Hälfte des Beitrags, der zu zahlen wäre, wenn die Beschäftigten nicht von der Versicherungspflicht in der GRV befreit worden wären. Das BSG bejaht auch die Zuordnung des Anspruchs nach dieser Vorschrift zum Sozialrechtsweg. Zweck der Bestimmung ist es, den grundsätzlich kraft Gesetzes in der GRV Versicherten die Absicherung in einem berufsständischen Versorgungswerk zu ermöglichen, ohne dass ihnen dadurch der gesetzlichen rentenversicherten Beschäftigten eingeräumte Anspruch auf Tragung eines Teils des Beitrags durch den Arbeitgeber entgeht. Ebenso wie bei § 257 SGB V handelt es sich bei § 172a SGB VI um einen Zuschuss zu einer „Ersatzversicherung”. Ferner ergibt sich der enge sozialrechtliche Zusammenhang aus der Einordnung der Vorschrift in das SGB VI unter dem Titel „Verteilung der Beitragslast”.

 

Hinweis:

Das BSG hat hinsichtlich weiterer Rechtswegfragen im Berichtszeitraum entschieden:

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge