(BVerfG, [stattgebender] Beschl. v. 16.10.2020 – 1 BvR 2805/19) • Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S 1 GG) setzt für eine strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB i.d.R. voraus, dass die Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen, abwägend gewichtet werden (vgl. BVerfG v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91, BVerfGE 93, 266 [293]; st. Rspr.). Diese grundrechtlich angeleitete Abwägung erfordert eine umfassende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der eine Äußerung gefallen ist (vgl. BVerfG v. 19.5.2020 –1 BvR 2397/19 [Rn 15 ff.]).

Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde konkreter Personen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf (vgl. BVerfG v. 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96, BVerfGE 99, 185 [196]; st. Rspr.). Möchte sich ein Fachgericht auf diese Ausnahmen stützen, so bedarf es einer tragfähigen, auf objektiv feststellbare Umstände gestützten Begründung (vgl. BVerfG v. 19.5.2020, a.a.O. [Rn 23–25]).

Bei der danach im Regelfall gebotenen abwägenden Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist je nach Umständen des Falls der Aspekt der Machtkritik zu berücksichtigen (vgl. BVerfG v. 19.5.2020, a.a.O. [Rn 30–32]). Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann für deren Würdigung als strafbare Beleidigung auch erheblich sein, ob sie spontan in einer hitzigen Situation oder mit längerem Vorbedacht gefallen ist und ob sie von einem größeren Kreis von Personen wahrgenommen werden konnte (a.a.O. [Rn 33f]).

Zwar ist die Einordnung der Äußerungen des Beschwerdeführers als ehrkränkend verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die angegriffenen Entscheidungen stützen die Verurteilung jedoch nicht auf eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende, kontextspezifische Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des betroffenen Polizeibeamten und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers.

Insbesondere war eine solche Abwägung (hier) nicht unter dem Gesichtspunkt der Schmähung oder Formalbeleidigung entbehrlich. Zwar ordnet das AG die Äußerungen „aufgrund ihrer Form” als Beleidigung ein und deutet damit der Sache nach eine Einordnung als Schmähkritik zumindest an. Es fehlt jedoch an einer die konkreten, objektiv feststellbaren Umstände des Falles in den Blick nehmenden Begründung. Dabei lässt das AG insb. den Kontext der Äußerung außer Acht.

ZAP EN-Nr. 613/2020

ZAP F. 1, S. 1297–1298

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