Um die Interessenlage in einem solchen anwaltlichen Mandatsauftrag aufzuzeigen, mag der Blick auf die typische Situation gerichtet sein, wie sie sich in Verfahren in den höheren Instanzen, insbesondere vor den Bundesgerichten, dem BVerfG und dem EGMR darstellt sowie regelmäßig in prägnanter Schärfe auch im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten nach § 359 StPO. Dies sind oftmals Verfahren von erheblicher Dauer, die regelmäßig auch von existentieller Bedeutung für die wirtschaftliche Situation der Mandanten sind, welche nicht selten während des Instanzenzugs in ihrer wirtschaftlichen Existenz geschwächt oder gar zerstört sind. Insbesondere in diesen Verfahrensarten, aber ceteris paribus auch in zahlreichen vergleichbaren Umfangsverfahren, ergibt sich eine typische Interessenlage, welche im Rahmen einer ausgewogenen, überlegten und an allen relevanten gesetzlichen Maßgaben orientierten Vertragsgestaltung zu bedenken ist.

1. Verfahren vor dem EGMR

Trotz der expliziten Normierung des konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebots in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK dauern z.B. die Verfahren der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK vor dem EGMR oftmals extrem lange (vertiefend s. Heuchemer AnwBl. 2014, 411 ff.). Gesicherte empirische Zahlen existieren nicht, aber eine Verfahrensdauer von fünf Jahren und mehr ist (leider) eher die Regel als die Ausnahme (z.B. Dauer des Verfahrens Gäfgen vs. Germany vor dem EGMR, Appl. No. 229758/05: von 2005 bis 2010). Bis dahin hat der Mandant i.d.R. bereits einen mehrjährigen Leidensweg im gesamten nationalen Rechtszug einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit hinter sich, den er gem. Art. 35 EMRK auch erschöpfen muss. Dies ist übrigens der legislatorische Grund für die äußerst großzügige und dogmatisch in weiten Grenzen "quer" zu den allgemeinen Regeln der Schadenssubstantiierung liegenden Judikatur des EGMR, die in Anwendung von Art. 41 EMRK einen pauschalierten Schadensersatz in oftmals vergleichsweise beträchtlicher Höhe gewährt.

 

Beispiel:

Selmouni vs. France Gerichtshof im Urt. v. 28.7.1999 – 25803/94, Rn. 101 ff: 500.000 FF für einen verurteilten Drogenkurier wegen rechtswidriger Erlangung der maßgeblichen Beweismittel. Geschluckte, per Präservativ im Magen verborgene Beweismittel entgegen des Grundsatzes nemo tenetur (privilege against self-incrimination) zuwider Art. 3, 6 Abs. 1 EMRK.

 

Literaturhinweis:

Zum Schadensersatz nach Art. 41 EMRK vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 88 Rn. 1 ff., mit eingehenden Nachweisen aus der Rechtsprechung.

2. Strafrechtliches Wiederaufnahmeverfahren

In besonderer Schärfe stellt sich diese Situation gleichfalls im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 StPO. Dem Verfahren (das mit der nicht fristgebundenen Ausbringung des Antrags an das Wiederaufnahmegericht beginnt) geht ein oftmals langjähriger Instanzenzug voraus.

 

Beispiele:

Auch in etlichen vom Verfasser geführten Umfangsverfahren waren es mehrere Jahre bis zur rechtskräftigen Entscheidung:

  • die Wiederaufnahmesache des als "größten Softwarepiraten Europas" titulierten Ralph B. vor dem LG Essen (Az. 71 Kls-300 Js 50/09-4/09),
  • das – neben o.g. Verfahren Gäfgen vs. Germany – zusätzlich geführte Wiederaufnahmeverfahren vor dem LG Darmstadt (Beschl. v. 25.11.2011 – 11 Ks – 1032 Js 60705/10; nach LG Frankfurt, Urt. v. 28.7.2003 – 5/22 Ks 2/03 – 3490 Js 230118/02 und mit der Rechtsmittelinstanz OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.6.2012 – 1 Ws 3/12).

Auch das Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 StPO, das im Fall einer Beschwerde in zwei Instanzen geführt werden kann, dauert regelmäßig lange, da das Wiederaufnahmegericht alle Instanzakten prüfen muss und die Staatsanwaltschaft zwingend beteiligt ist. Das Verfahren zielt darauf, in Durchbrechung der Rechtskraft das rechtskräftige Urteil zu Fall zu bringen und die Erneuerung der Hauptverhandlung gem. § 370 Abs. 2 StPO anzuordnen oder im seltenen Fall des § 371 Abs. 2, 3 StPO mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft zum Freispruch zu führen. Da von der Möglichkeit einer Anordnung des Aufschubs oder der Unterbrechung der Vollstreckung gem. § 360 Abs. 2 StPO in der Praxis extrem selten Gebrauch gemacht wird, zieht sich die Verteidigung in der Wiederaufnahme bei Haftfällen in aller Regel aus der Vollstreckungssituation heraus – mit allen drastischen Konsequenzen für die Situation des Angeklagten – auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Strate hat diese für den Rechtsanwalt wie für den Mandanten oftmals prekäre Lage wie folgt beschrieben: "Es ist eine Frage der eigenen Arbeitskraft, wie viele dieser Mandatsanfragen eines inhaltlichen Eingehens fähig und wert sind. Der Anwalt – der junge zumal – sollte sich davor hüten, voreilig eine Prüfung des angetragenen Mandats in Aussicht zu stellen. Denn das Problem fast jeder Wiederaufnahme ist deren Finanzierung. Der rechtskräftig Verurteilte hat i.d.R. sein gesamtes Hab und Gut verloren und die letzten liquiden Mittel bei den Anwälten gelassen, die seine Verurteilung und schließlich auch die Rechtskraft des Urteils nicht haben ...

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