1. Coronabedingte Schulschließungen

a) Verbot von Präsenzunterricht

Das BVerfG (FamRZ 2022, 99; FamRB 2022, 141 m. Hinw. Schwamb; NJW 2022, 167) hat die Rechtmäßigkeit von Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie, nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage bejaht und mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht nach der "Bundesnotbremse" richteten. Sehr ausführlich hat es in dieser Entscheidung ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung erörtert und bejaht. Entfällt der Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung, so sind die Länder verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren, etwa durch Distanzunterricht.

Der Gesetzgeber muss bei einer lange andauernden Gefahrenlage seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen belastenden Maßnahmen anhalten. Allerdings darf der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitliche Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden.

b) Kein Verfahren nach § 1666 BGB gegenüber Maßnahmen schulischer Behörden

Der BGH (FamRZ 2021, 1884; FamRZ 2022, 103 und 190; FamRB 2022, 54 m. Hinw. Schwamb) hat erneut betont, dass für Maßnahmen gegenüber schulischen Behörden der Rechtsweg zu den Familiengerichten nicht eröffnet ist und elterliche Eingaben regelmäßig keine Veranlassung für Vorermittlungen bilden. Eine Verweisung an das zuständige Verwaltungsgericht kommt wegen unüberwindbar verschiedener Prozessmaximen nicht in Betracht. Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, FamRZ 2022, 528).

2. Kindeswohlgefährdung

Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird und die Eltern nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung einer konkreten Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Dabei sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung der Kinder von der elterlichen Familie verbunden ist, nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfe, begegnet werden kann.

a) Schulverweigerung

  • Nach Auffassung des OLG Bamberg (FamRZ 2022, 458; FamRB 2022, 57 m. Hinw. Clausius) ist es nicht Aufgabe des Familiengerichtes für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, vielmehr ständen der Schulbehörde hierfür Maßnahmen zur Verfügung, die von dieser in eigener Zuständigkeit zu prüfen seien. Es kann in Fall einer Schulverweigerung nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden. Es sind alle wesentlichen Aspekte des konkreten Einzelfalls zu ermitteln und hinsichtlich einer konkreten Kindeswohlgefährdung zu bewerten. Allgemeine Erwägungen reichen zur Begründung einer konkreten und erheblichen Gefährdung nicht aus (vgl. OLG Düsseldorf, FamRZ 2019, 35).
  • Das OLG Celle (FamRZ 2022, 111) hat sich der Auffassung (vgl. EuGHNR, FamRZ 2020, 33) angeschlossen, dass in aller Regel bei "homeschooling" von Kindern im Grundschulalter die Voraussetzungen einer Kindeswohlgefährdung gegeben sind. Es ist nicht erforderlich, dass konkrete Lerndefizite durch Lernstandskontrollen festgestellt werden.

Es genügt vielmehr, dass den Kindern durch die Vorenthaltung der Schulsozialisation Entwicklungsmöglichkeiten und Lernchancen genommen werden und ihnen dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit verwehrt wird, zu einem späteren Zeitpunkt einen staatlich anerkannten Schulabschluss zu erwerben. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Kinder ohne jeden Kontakt mit Kindern gleichen Alters aus ihrer Gemeinde aufwachsen.

In Betracht kommen ein Teilsorgeentzug und die Ermächtigung eines Ergänzungspflegers zur Durchsuchung und Erzwingung der Herausgabe der Kinder zur Durchsetzung des Schulbesuchs.

b) Sorgerechtsvollmacht als kindsschutzrechtliche Maßnahme

Die zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung anzuordnende Maßnahme muss geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein (vgl. BGH, FamRZ 2017, 212). Jeder Eingriff in das Elternrecht muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Kann der Gefahr einer Kindeswohlgefährdung durch eine umfassende Sorgerechtsvollmacht begegnet werden, so kann sie nach einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (FamRZ 2022, 115 in Anlehnung an BGH, FamRZ 2020, 1171) als vorrangige Schutzmaßnahme auch in einem Verfahren nach § 1666 BGB eine Übertragung des Sorgerechts entbehrlich machen. Wie im Verfahren nach § 1671 BGB stellt sich die Frage, ob ein Entzug auch nur von Teilen der elterlichen Sorge bei erteilter Sorgerechtsvollmacht eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz standhaltende Maßnahme darstellt. Dies ist nicht der Fall, wenn die Konstellation von fortbestehender elterlicher Sorge qualitativ im Verhältnis zum Sorgerechtsentzug nicht nachteilbehafteter ist, weil es dann an der Erforderlichkeit des Eingriffs in das Elterngrundrecht fehlt.

3. Übertragung der Entscheidungsbefugnis

Wenn sich die Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in Angelegenheiten, die für das Kind von e...

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