Viele der ungefähr 69.000 vor dem EGMR anhängigen Fälle sind sog. Wiederholungsfälle, die aus einer verbreiteten Fehlfunktion auf innerstaatlicher Ebene resultieren. Das Piloturteilsverfahren gem. Art. 61 EGMR-Verfahrensordnung wurde als Technik entwickelt, um die strukturellen Probleme zu identifizieren, die den Wiederholungsfällen in vielen Ländern zugrunde liegen und um den Staaten eine Verpflichtung aufzuerlegen, sich dieser Probleme anzunehmen. Wenn dem Gerichtshof mehrere Beschwerden vorliegen, die auf dieselbe Ursache zurückzuführen sind, kann er einen oder mehrere Fälle für eine vorrangige Behandlung nach dem Piloturteilsverfahren auswählen. Im Piloturteilsverfahren besteht die Aufgabe des Gerichtshofs nicht nur darin zu entscheiden, ob im jeweiligen Fall eine Verletzung der EMRK vorgelegen hat, sondern auch, das strukturelle Problem zu identifizieren und der Regierung gegenüber klare Angaben zu machen, wie das Problem zu beheben ist. Ein Hauptelement des Piloturteilsverfahrens bildet die Möglichkeit, ähnliche Fälle für eine gewisse Zeit zurückzustellen unter der Bedingung, dass die Regierung umgehend handelt, indem sie Maßnahmen auf nationaler Ebene trifft, die dazu nötig sind, dem Urteil Folge zu leisten. Der Gerichtshof kann allerdings jederzeit die Prüfung vertagter Fälle wieder aufnehmen, wenn das Rechtsinteresse dies erfordert. Seit 2006 stellte der Gerichtshof beispielsweise immer wieder fest, dass Deutschland nicht dafür Sorge trug, dass Verfahren vor den Verwaltungsgerichten innerhalb angemessener Frist durchgeführt werden und dass kein wirksamer Rechtsbehelf gegen die überlange Verfahrensdauer zur Verfügung stand (vgl. www.echr.coe.int/Documents/FS_Pilot_judgments_DEU.pdf ).

Dies führte in der Folge zu dem Piloturteil vom 2.9.2010 in dem Individualbeschwerdeverfahren R. gegen Deutschland (Nr. 46344/06, s.o. Beispiel zu Art. 6 EMRK).

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