Die Vorschrift des § 207 SGB IX begrenzt das arbeitgeberseitige Direktionsrecht: Schwerbehinderte Menschen und die ihnen gem. § 151 Abs. 1 u. 3 SGB IX Gleichgestellten werden demnach auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freigestellt. Dies hat zur Folge, dass dieser Personenkreis die Leistung von Mehrarbeit nicht schuldet und vom Arbeitgeber nicht hierzu herangezogen werden darf.

Mehrarbeit ist jede über die gesetzlich regelmäßige Arbeitszeit i.S.v. § 3 S. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit. Diese beläuft sich werktäglich – Werktag ist jeder Kalendertag, der kein Sonntag oder gesetzlich festgelegter Feiertag ist (§ 9 Abs. 1 ArbZG), der gesetzgeberischen Konzeption des ArbZG liegt demnach grds. eine Sechstagewoche zugrunde – auf acht Stunden.

 

Hinweis:

Die individuell vereinbarte oder tarifliche regelmäßige Wochen- oder Monatsarbeitszeit bleibt bei der Bestimmung von Mehrarbeit i.S.v. § 207 SGB IX ebenso außer Betracht wie die Möglichkeit, die Arbeitszeit nach § 3 S. 2 ArbZG auf bis zu zehn Stunden täglich zu verlängern.

Das BAG hatte am 27.7.2021 (9 AZR 448/20, NZA 2021, 1702) über den Sachverhalt zu befinden, dass der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Kläger neben seiner Wochenarbeitszeit an Wochenenden (Samstag und Sonntag) zu Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft eingeteilt war. Das Gericht hat entschieden, der Kläger habe zwar keinen Anspruch darauf, generell von Bereitschaftszeiten am Wochenende ausgenommen zu werden. Angesichts seiner regulären Fünf-Tage-Woche könnte er zumindest an einem sechsten Tag in der Woche zu einer achtstündigen Bereitschaft herangezogen werden. Allerdings verstieße die Einteilung des Klägers zu Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft am gesamten Wochenende (Samstag 0.00 Uhr bis Montag 7.15 Uhr) gegen seinen Anspruch auf § 207 SGB IX auf Freistellung von Mehrarbeit, wenn es sich bei den Bereitschaftszeiten insgesamt um Arbeitszeit i.S.d. ArbZG handele. In diesem Fall hätte die Anweisung des Arbeitgebers zugleich die Überschreitung der werktäglichen Arbeitszeit von acht Stunden und die unzulässige Verteilung der Arbeitszeit auf sieben Tage in der Woche zum Gegenstand.

Hinsichtlich der Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Rufbereitschaft als Arbeitszeit anzusehen ist, verweisen wir auf unsere Ausführungen in ZAP F. 17 R, 1062 f. und die dort angeführte Rechtsprechung des EuGH (s. ferner ergänzend unten I.3.b)). Das LAG hatte hinsichtlich dieser erforderlichen rechtlichen Bewertung keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen getroffen, sodass das Berufungsurteil insoweit aufgehoben und der Rechtsstreit gem. § 563 Abs. 1 ZPO zurückverwiesen wurde.

 

Hinweise:

1. Schwerbehinderte Menschen und die diesen Gleichgestellten (§ 151 Abs. 1 u. 3 SGB IX) haben u.a. nach Maßgabe von § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX Anspruch auf eine behindertengerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit. Die Vorschrift begründet für diesen Personenkreis einen einklagbaren Anspruch, nicht (mehr) zu Rufbereitschaftsdiensten eingeteilt zu werden, wenn er diese wegen der Behinderung nicht ausüben kann. Insoweit tragen schwerbehinderte Arbeitnehmer nach allgemeinen Regeln grds. die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Wer beansprucht, nicht mehr zu Rufbereitschaftsdiensten herangezogen zu werden, muss darlegen und ggf. beweisen, die damit verbundenen Tätigkeiten wegen der Behinderung nicht mehr wahrnehmen zu können. Dazu obliegt es vorzutragen, inwieweit das Leistungsvermögen durch die Auswirkungen der Art und Schwere der Behinderung so eingeschränkt ist, dass die übertragene Sonderform der Arbeit (hier Bereitschaftszeiten) nicht mehr geleistet werden kann (BAG, Urt. v. 27.7.2021, a.a.O., Rn 29 f.). In dieser Hinsicht hatte der Kläger vorliegend nichts vorgetragen.
2. Am 1.1.2022 ist § 185a SGB IX in Kraft getreten, wonach die Integrationsämter „einheitliche Ansprechstellen” einrichten, um den Arbeitgebern als „trägerunabhängige Lotsen” bei Fragen zur Ausbildung, Einstellung, Berufsbegleitung und Beschäftigungssicherung von schwerbehinderten Menschen und den ihnen Gleichgestellten zur Verfügung zu stehen und sie für Ausbildung/Einstellung/Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen zu sensibilisieren.
3. Weitergehend haben alle Arbeitnehmer einen Anspruch aus § 241 Abs. 2 BGB (vgl. BAG, Urt. v. 3.12.2019 – 9 AZR 78/19, NZA 2020, 578, Rn 21; BAG, Urt. v. 27.5.2015 – 5 AZR 88/14, NZA 2015, 1053 Rn 26 f., 34, 44, 46), gestützt auf die Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers auf integre Rechtsgüter des Arbeitnehmers als Vertragspartner (Gesundheit) (vgl. zuletzt LAG Köln, Urt. v. 12.1.2022 – 3 Sa 540/21, juris; nachgehend BAG, Urt. v. 13.4.2022 – 5 AZN 136/22 Rücknahme). Der Arbeitgeber muss die Neuausübung des Direktionsrechts prüfen. Sie muss dem Arbeitnehmer möglich und zumutbar sein. Eine Verpflichtung zur vertragsfremden Tätigkeit besteht im Gegensatz zu § 164 IV 1 Nr. 4 SGB IX nicht.

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